800.000 € Schmerzensgeld für schwerstgeschädigtes Kind | Kapitalisierung mit Zinsfuß von 1% p.a.
In meinem Beitrag vom 15.11.2019 hatte ich bereits über das Urteil des Landgerichts Aurich (Urteil vom 23.11.2018 – 2 O 165/12) im Zusammenhang mit dem ebenfalls hervorzuhebenden Urteil des Landgerichts Gießen (Urteil vom 06.11.2019, Az. 5 O 376/18) wegen der gleichlautend hohen Schmerzensgeldsumme von 800.000 € berichtet. Das Oberlandesgericht Oldenburg (OLG) hat nun, als das zuständige Berufungsgericht, das Urteil des Landgerichts Aurich am 18.03.2020 (Az. 5 U 196/18) bestätigt.
Gegenstand des Verfahrens des Landgerichts Aurich (LG) war ein zum Behandlungszeitpunkt erst 5 Jahre altes Kind, das durch eine fehlerhafte Behandlung im Krankenhaus den Verlust beider Unterschenkel jeweils knapp unter dem Kniegelenk sowie insgesamt schwerste körperliche Beeinträchtigungen erlitten hatte.
Der Fall
Der noch junge Kläger wurde mit Fieber und Schüttelfrost mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus der Beklagten eingewiesen. Trotz entsprechender Hinweise der Mutter ignorierte der zuständige Pfleger den Zustand des Kindes. Obwohl hämorrhagische Nekrosen erkennbarer waren, zog er keinen Arzt hinzu. Zudem verzichtete er darauf, eine vom Kind selbst gezogene Braunüle wieder anzulegen. Er war der Meinung, das Kind schlafe nur und sollte nicht geweckt werden. Ein fataler Trugschluss, wie sich herausstellte. Das ohnehin durch Fieber und wiederholtes Erbrechen dehydrierte Kind erhielt so über Stunden keine Flüssigkeit. Erst am darauffolgenden frühen Morgen wurden die Behandler auf großflächige dunkle Flecken im Gesicht und am Körper des Klägers aufmerksam, die sich dann als hämorrhagische Nekrosen infolge einer Meningokokkensepsis herausstellten. Unter anderem entwickelte sich auch eine sog. Sepsis (Blutvergiftung).
In dem Aufnahmebefund der nachbehandelnden Klinik wurde der desolate Zustand des Kindes wie folgt eindrucksvoll beschrieben: „5 Jahre alter Junge in schwer beeinträchtigtem AZ (Allgemeinzustand), intubiert und beatmet, […] fahles Hautkolorit, ausgeprägte multiple Hauteinblutungen und beginnende Nekrose an allen 4 Extremitäten und im Gesicht; […] Pulse schwach, Extremitäten kühl […] keine sichere Lichtreaktion“.
Das Verhalten der Behandler sah das LG Aurich in einem bereits vorab verkündeten Grundurteil vom 21.10.2013, das durch das OLG Oldenburg am 28.10.2015 bestätigt wurde, als groben Behandlungsfehler an. In dem Betragsverfahren sprach das LG Aurich 2018 dem jungen Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 800.000 € zu. Auch dieses Urteil bestätigte das OLG Oldenburg nun jüngst.
Gegen dieses Schlussurteil hatte das beklagte Krankenhaus Berufung beim OLG Oldenburg eingelegt. Zusammengefasst brachte die Beklagte folgende Begründung vor:
- Die Schmerzensgeldsumme sei überhöht und
- falle aus dem Rahmen anderer Entscheidungen mit vergleichbaren Schädigungen heraus;
- Schmerzensgelder in der Größenordnung von 500.000 € seien in der Regel bei allerschwersten Gesundheitsschäden, wie Hirnschädigungen mit Zerstörung der Persönlichkeitsstruktur, zu finden.
- Das LG habe zudem die Möglichkeit einer Versorgung mit Prothetik nicht ausreichend in die Schmerzensgeldbemessung einfließen lassen.
Taggenaues Schmerzensgeld keine Option
Der 5. Zivilsenat des OLG Oldenburg wies die Berufung zurück und bestätigte damit die Schmerzensgeldbemessung des Landgerichtes. In seiner Begründung distanzierte sich der Senat von der vom OLG Frankfurt verwendeten Methode der taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes, da er diese nicht für überzeugend erachte. Das OLG Oldenburg hat das bisherige System bekräftigt und hervorgehoben, dass vor dem Hintergrund der berechtigten Kritik die Schmerzensgeldentscheidung stets sorgfältig zu begründen sei, um sie zu anderen Entscheidungen hin abzugrenzen.
Der Senat pflichtete allerdings dem OLG Frankfurt im Hinblick auf die Kritik an der Oberflächlichkeit mancher Schmerzensgeldbemessungen nach dem herkömmlichen System bei. Er stimmte dem Oberlandesgericht Frankfurt auch darin zu, dass das Bestreben nach besserer Vergleichbarkeit der Schmerzensgeldbemessungen berechtigt sei.
Im vorliegenden Fall widerlegte der Senat die Ansicht der Beklagten, das ausgeurteilte Schmerzensgeld sei im Hinblick auf andere Entscheidungen unangemessen hoch, indem es sorgfältig auf einzelne Schmerzensgeldentscheidungen anderer Obergerichte einging.
Hervorzuheben ist die Begründung des Senates:
Die drei Richter des OLG Oldenburg stellten darauf ab, dass der Kläger bis zu der grob fehlerhaften Behandlung gesund war. Da er sich Zeit seines Lebens der verletzungsbedingten Einschränkungen bewusst sein wird, unterscheide sich der vorliegende Fall grundlegend von den Schmerzensgeldentscheidungen bei Geburtsschadensfällen, bei denen ein Behandlungsfehler in der Regel zu einer völligen Zerstörung der Persönlichkeitsstruktur des Kindes führt. Diese Entscheidungen taugen daher nicht als Referenzentscheidungen für den vorliegenden Fall:
„[…] Während in den Fällen der Zerstörung der Persönlichkeit im Wesentlichen ein in der Vergangenheit liegender Umstand kompensiert werden soll und die Bemessung insoweit weitestgehend gleichsam statisch ereignisbezogen ist, ist der vorliegende Fall maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass der Kläger nicht nur bereits in der Vergangenheit liegendes erhebliches Leid hat erdulden müssen, sondern auch zukünftig bis an sein Lebensende ganz erhebliche Belastungen, Schmerzen und Einschränkungen im dauerhaften Bewusstsein des Verlustes wird ertragen müssen. Dieser Umstand ist bereits nach der herkömmlichen Schmerzensgeldbemessung ein gewichtiger Bewertungsfaktor […].“
Der Senat ordnete dabei die Bemessung des Schmerzensgelds in folgende Kriterien ein:
- Dauerschäden,
- Behandlungen/Operationen,
- Fortbewegung/Mobilität,
- Kommunikation,
- Psyche und kognitive Fähigkeiten,
- Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken sowie
- Aussehen und Aussicht auf Partnerschaft.
Beachtenswert: Kapitalisierung mit 1%-Verzinsung
Für Juristen besonders interessant ist folgender Aspekt der Entscheidung des Senats, der neben dem Schmerzensgeld etwas unterzugehen droht:
Der Senat legte im Rahmen der sogenannten Kapitalisierung eines Schmerzensgeldrentenanspruches einen Zinsfuß von 1 % pro Jahr zu Grunde.
Damit hob sich der Senat des OLG Oldenburg deutlich von der noch bis vor einiger Zeit von Gerichten und Haftpflichtversicherern vertretenen Ansicht ab, dass ein Zinsfuß von 5 % pro Jahr der Berechnung zugrunde zu legen sei.
Letztlich beriefen sich die Versicherer und auch Gerichte auf ein nach meiner Ansicht völlig missverstandenes oder fehlerhaft angewandtes Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH, VersR 1981, 283), wonach der Bundesgerichtshof einen Zinsfuß von 5 % pro Jahr für angemessen erachtete. Macht man sich die Mühe und liest sich das Urteil durch, stellt man rasch fest, dass dies kein Postulat des BGH war, sondern ein schlicht der damaligen Hochzinsphase geschuldeter Rechenwert. Vor diesem Hintergrund war ein Zinsfuß von 5 %, zu Gunsten der Geschädigten noch als vergleichsweise gering zu bewerten.
Da wir seit mehreren Jahren eine Niedrigzinsphase erleben, ist der Ansatz einer Verzinsung mit 5 % schlicht nicht mehr realistisch und benachteiligt Geschädigte unbillig. (s. dazu auch den Beitrag Kapitalisierung von Ansprüchen) Vielmehr ist inzwischen, wie vom OLG Oldenburg völlig zurecht gesehen, ein Zinsfuß von 1 % pro Jahr aufgrund der seit langem andauernden Niedrigzinsphase angemessen.
Schmerzensgelder für schwerstgeschädigte Kinder steigen
Als Fazit ist somit festzuhalten, dass sich in den letzten Jahren die Schmerzensgelder für schwerstgeschädigte Kinder deutlich erhöht haben. Bei der Vertretung eines Kindes ist ganz besonders darauf zu achten, sämtliche körperlichen aber auch geistigen/psychischen/seelischen Gesundheitsschäden, die ein Kind durch eine fehlerhafte Behandlung davongetragen hat, umfassend darzustellen, zu belegen und unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung zu beziffern. Dabei ist auf die feine, aber sehr wichtige Unterscheidung zu achten, dass ein Kind, das zwar keine Zerstörung der Persönlichkeit erlitten hat, allerdings einen schweren körperlichen und letztlich auch psychischen Schaden davongetragen hat, nicht nur für den Ist-Zustand, also für den unmittelbaren Gesundheitsschaden, entschädigt wird, sondern für die dauerhafte lebenslange Beeinträchtigung.
Bei Vergleichen, die Kapitalabfindungsbeträge beinhalten, ist zudem zu beachten, dass ein Zinsfuß von 1 % in jedem Fall realistisch und der Berechnung zugrunde zu legen ist.
Irem Jung, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Medizinrecht
Spezialistin für Geburtsschäden und Schadenersatz/Schmerzensgeld bei Behandlungsfehlern bei Kindern