Tipps zum Schmerzensgeld: Die Rolle des Gedächtnisprotokolls
Wer durch einen Unfall oder Behandlungsfehler geschädigt wurde, hat in der Regel Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadensersatz, wobei das Schmerzensgeld sowohl für den Geschädigten als auch im Rahmen der außergerichtlichen wie auch gerichtlichen Verhandlungen eine zentrale Rolle spielt.
Der nachfolgende Beitrag wird sich auch mit den folgenden Fragen befassen:
- Was muss ich berücksichtigen, wenn ich Schmerzensgeld verlange?
- Welche Kriterien gelten beim Schmerzensgeld?
- Was kann und muss ich als Geschädigte/r selbst tun, um Schmerzensgeld zu fordern und zu bekommen?
Ich möchte nachfolgend aufzeigen, worauf es bei der Geltendmachung beim Schmerzensgeld ankommt und was der einzelne Geschädigte tun kann, um sein Recht durchzusetzen.
Sie finden hier Tipps und Hinweise, wie Sie bei der Geltendmachung Ihres Schmerzensgeldanspruchs unterstützend mitwirken können.
Genugtuungs- und Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes
Das Schmerzensgeld ist ein Teil des Schadenersatzes und soll Ausgleich, aber auch Genugtuung bieten für die sogenannten Nichtvermögensschäden, also Schäden immaterieller Art. Genugtuungsfunktion bedeutet, dass das Schmerzensgeld Genugtuung schaffen soll für das, was der Schädiger Ihnen angetan hat. Da jedoch eine „Wiedergutmachung“ bei einem Gesundheits- und Körperschaden nicht wirklich möglich ist, steht die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgelds, die Kompensation der Schäden, im Vordergrund. Dabei spielt die Einordnung für Sie in der Praxis keine Rolle. Entscheidend ist, was Sie fordern können und worauf gestützt.
Letztlich heißt es: „Butter bei die Fische“, wie der Norddeutsche sagt. Der Forderung nach Schmerzensgeld muss eine gute Begründung durch Ihren Anwalt zu Grunde liegen.
Doch wie gelangt Ihr Anwalt an die wichtigen Bemessungskriterien, um das Schmerzensgeld in der angemessenen Höhe zu begründen?
Die offensichtlichen Tatsachen, wie:
– Verletzungsfolgen
– Dauer der Behandlung etc.
genügen hierfür bei Weitem nicht. Es muss herausgearbeitet werden, was Sie und Ihren Schadensfall besonders macht, ihn abhebt von den anderen.
Das Gedächtnisprotokoll
Grundsätzlich ist es sinnvoll ein Gedächtnisprotokoll zu erstellen – entweder fertigen Sie es selbst an oder Ihre nächsten Angehörigen tun dies.
Darin sollte zum einen die Vorgeschichte, also der Gesundheitszustand und die Gestaltung des Lebens vor dem Schadensereignis kurz beschrieben werden, außerdem das Schadensereignis selbst und die Folgen für die Gesundheit und das zukünftige Leben, also der Lebenszuschnitt nach dem Schadensereignis.
Im Fokus stehen dabei die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die ärztlichen Behandlungen mit einer chronologischen Aufstellung und der Beschreibung des jeweiligen Gesundheitszustandes.
Das Protokoll sollte also eine Vorher-/Nachher-Betrachtung der Beeinträchtigungen enthalten, die sich durch die Schädigung im Hinblick auf Beruf, Familienleben, Freizeit, Gesundheit an sich, aber auch im Hinblick auf die Zukunftsplanung ergeben.
Dabei sollten Sie an alle Lebensbereiche denken und Beispiele anführen, die die Beeinträchtigungen für Außenstehende nachvollziehbar machen.
Zur Unterstützung dieser Aufstellung können auch Bescheide beigefügt werden, wie der GdB-Bescheid (Festsetzung des Grades der Behinderung), ein Rentenbescheid bzw. das entsprechende Rentengutachten, der Bescheid des Pflegeversicherers mit dem MDK-Gutachten (Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen) etc.
Anhand dieses Gedächtnisprotokolls kann ihr Anwalt nachvollziehen wie es Ihnen vor dem Unfall/der fehlerhaften Behandlung ging und wie sich die gesundheitliche Situation seit dem Schadensereignis entwickelt hat. Das Gedächtnisprotokoll dient aber auch dazu, zu klären, ob und wenn ja bei welchen Ärzten und Therapeuten noch Berichte angefordert werden sollten.
Kriterien für die Bemessung des Schmerzensgelds
Die nachfolgenden Kriterien sollte Ihr Anwalt für Sie prüfen und mit Hilfe Ihrer Angaben auch im Gedächtnisprotokoll in seinem Anspruchsschreiben an die Gegenseite mit „Leben füllen“.
Hier habe ich die wichtigsten Kriterien, die für die Schmerzensgeldbemessung von Bedeutung sind, zusammengestellt:
- dauerhafter Gesundheitsschaden oder zeitlich begrenzt?
- Behinderungen (Grad der Behinderung?)
- Narben, Entstellungen
- Verluste von Organen, Körperteilen
Schmerzen und Beeinträchtigungen
- körperliche Schmerzen, Art: dauerhaft oder sporadisch, stechend, großflächig oder hämmernd?, Behandlung, Intensität
- Art der Beeinträchtigungen durch den Gesundheits- und Körperschaden im Hinblick auf:
- Beruf (Ausfallzeiten, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, Minderung der Erwerbsfähigkeit, berufliche Nachteile, Verhinderung von Aufstiegsmöglichkeiten, Verlust von Aufträgen etc.)
- Familienleben (Familienplanung, Gestaltung des Familienlebens, Veränderungen durch den Schadensfall)
- Freizeit/Sport/Hobbys (Aufgabe von Sportarten, Einschränkungen jeglicher Art)
- Zukunftsplanung (im Hinblick auf alle Lebensbereiche, auch vereitelte Heiratschancen, Beeinträchtigungen bis hin zum Verlust der Zeugungsfähigkeit oder der Gebärfähigkeit)
- Alter des Geschädigten
- psychische Beeinträchtigungen
- psychischer Gesundheitsschaden durch das Schadensereignis
- Sorge/Angst um die eigene Zukunft, um die Familie, den Gesundheitszustand
- Angst vor weiteren Behandlungen
- Einschränkungen bzw. Verlust der sozialen Kontakte
- Verschulden des Schädigers
Diese und weitere Kriterien, die sich an der individuellen Lebenswelt des einzelnen Geschädigten orientieren, müssen mit Leben gefüllt und im Rahmen der außergerichtlichen, aber auch gerichtlichen Auseinandersetzung vorgebracht werden.
Nicht selten „scheitert“ der geforderte Schmerzensgeldbetrag nicht an der Angemessenheit an sich, sondern schlicht an der fehlenden oder unzureichenden Begründung.
TIPP: Das Gedächtnisprotokoll sollten Sie auch in Zukunft unbedingt fortführen, alle sichtbaren Gesundheitsschäden, auch fotografisch, festhalten und weiterhin dokumentieren.
Denn ein Bild sagt mehr als 1000 Worte.
Schmerzensgeld und Menschenwürde
Was ist jedoch, wenn jemand so schwer geschädigt ist, dass er viele Aspekte der obigen Kriterien gar nicht mehr empfinden kann oder sie zwar empfinden, aber nicht zum Ausdruck bringen kann? Das erleben wir oft bei geburtsgeschädigten Kindern oder Kindern, die im frühen Alter eine Hirnschädigung durch Unfall oder Behandlungsfehler erfahren haben.
Steht diesem schwerstgeschädigten Menschen dann nur noch ein symbolhaftes Schmerzensgeld zu, weil er die Zerstörung der eigenen Persönlichkeit nicht mehr wirklich empfinden kann?
Bis zu einem denkwürdigen Urteil des Bundesgerichtshofes im Oktober 1992 wurde Schwerstgeschädigten, deren Schädigung der Gesundheit und des Körpers mit einer Zerstörung bzw. schweren Beeinträchtigung der Persönlichkeit verbunden war, ein mehr symbolhaftes Schmerzensgeld als Entschädigung zugedacht. Man war damals der Ansicht, dass der Geschädigte aufgrund seiner Beeinträchtigung nicht in der Lage sei, den durch das Schmerzensgeld beabsichtigten Ausgleich bzw. die Genugtuung zu empfinden.
Im Oktober 1992 kam es dann zur Kehrtwende, gerade bei schwerstgeschädigten Kindern, also bei Geburtsschadensfällen: Der Bundesgerichtshof stellte eindeutig klar, dass das Fehlen der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit eines Geschädigten für sein körperliches und seelisches Leid, das Begreifen seiner Andersartigkeit und das Gefühl der Abhängigkeit von fremder Hilfe nicht schmerzensgeldmindernd seien. Dies stehe in einem nicht auflösbaren Widerspruch zu den im Grundgesetz in Artikel 1 und 2 verankerten Werten, wie dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Würde des Menschen.
Neben der Genugtuungs- und Ausgleichsfunktion trat somit unter Rückgriff auf die grundrechtlich gesicherten Rechte und Werte auch die Würde des Menschen in den Vordergrund.
Die Schmerzensgeldrechtsprechung
Die Bandbreite der Schmerzensgeldrechtsprechung ist recht groß und nicht selten wird von der Gegenseite eingewandt, das geforderte Schmerzensgeld sei überhöht. Es werden dann andere, mit geringeren Schmerzensgeldbeträgen versehene, Vergleichsurteile vorgelegt.
Häufig werden in diesen Schmerzensgeld-Vergleichsurteilen bestimmte Schadensbilder betont, während andere gar nicht erst angeführt werden.
Nicht selten habe ich erlebt, dass die Mandanten, die ich vertrete, nicht nur eine Form der Verletzung erlitten haben, sondern die Beeinträchtigungen mannigfaltig sind und sich zudem im Laufe der Zeit durchaus verändert haben, einhergehend mit Veränderungen auch in den Lebensumständen selbst.
Es liegt auf der Hand, dass sich das nicht in einer in wenigen Zeilen dargestellten Orientierungsentscheidung widerspiegeln kann.
Um aber auch dem Gericht oder dem gegnerischen Haftpflichtversicherer die in Ansatz gebrachte Schmerzensgeldhöhe plausibel zu machen, ist eine gute Begründung das A und O.
So kann es durchaus passieren, dass zwei ähnlich gelagerte Fälle aufgrund der, wenn auch geringen, Unterschiede bei der Begründung des Schmerzensgeldes, ganz unterschiedlich ausfallen.
Zieht man Schmerzensgeldurteile als Orientierungshilfe heran, muss man darauf achten, was dort tatsächlich beantragt wurde und ob das Gericht die Gelegenheit hatte, über das beantragte Schmerzensgeld hinaus ein höheres anzusetzen. Wird nämlich im Schmerzensgeldantrag nicht der Begriff „mindestens“ vor dem beanspruchten Betrag eingesetzt, so darf das Gericht nicht über diesen Betrag hinausgehen, selbst wenn es dem Kläger ein höheres Schmerzensgeld zusprechen wollte.
Ich rate daher meinen Mandanten immer, sich bei der Erstellung eines Gedächtnisprotokolls oder auch der Schilderung ihres Lebens vor und nach dem Schadensereignis Zeit zu nehmen, um alle Aspekte zu berücksichtigen, in denen sich eine Veränderung durch das Schadensereignis ergeben hat.
Diese nachvollziehbar „lästige Hausaufgabe“ kann entscheidend sein für ein angemessenes oder unangemessenes Schmerzensgeld.
Irem Jung, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Medizinrecht
Spezialistin für Geburtsschadensrecht und Behandlungsfehler bei Kindern