Geburtsbedingter schwerer Hirnschaden durch Sauerstoffmangel
Geburtsschaden: BGH bestätigt Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 Euro und bekräftigt zentrale Rechtsgrundsätze – auch mit Blick auf die Aufgabe von Rechtsanwälten.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat im März ein wichtiges Urteil für Geschädigte eines Geburtsschadens gefällt (Az. VI ZR 16/21). Klägerin war eine junge Frau, die im Jahr 2006 geburtsbedingt einen schweren Hirnschaden durch Sauerstoffmangel erlitten hatte („infantile globale dyskinetische Cerebralparese“).
Was hatte sich zugetragen?
Die Mutter der Klägerin hatte bereits 2003 mittels eines Kaiserschnitts ihr erstes Kind entbunden. Bei der Geburt der Klägerin im Jahre 2006 wurde der vaginale Entbindungsweg gewählt und die Geburt mithilfe von Prostaglandin eingeleitet. Dabei handelt es sich um ein Mittel, das zur Öffnung des Muttermundes und dessen sogenannter Reifung beitragen soll. Allerdings kam es plötzlich zu einer „Uterusruptur“ mit der Folge, dass das Kind in einem schwer beeinträchtigten Zustand zur Welt kam.
Die Klägerin leidet seitdem unter gravierenden Koordinationsstörungen und Epilepsie. Ferner sind psychische und kognitive Bereiche sowie die Persönlichkeitsbildung schwer beeinträchtigt. Die Klägerin kann weder sprechen noch laufen noch lesen oder schreiben. Zudem liegen eine Inkontinenz sowie eine ausgeprägte Intelligenzminderung vor, ferner eine Sehstörung sowie eine herabgesetzte Hörfähigkeit.
Trotz dieser komplexen Behinderungen wird ihr, so der BGH, sicher schmerzhaft bewusstwerden, dass sie gegenüber anderen Kindern stark eingeschränkt ist. Dies führt somit zusätzlich zu einer emotionalen und seelischen Belastung des Kindes.
Sie bedarf lebenslang einer intensiven Pflege und Betreuung und wird den Stand eines Kleinkindes nicht überwinden können.
Wie entschieden die ersten Instanzen?
Das Landgericht Mainz verurteilte den Arzt wegen unzureichender Aufklärung der Mutter vor der Geburt zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 500.000 Euro. Die Richter verpflichteten ihn zudem, der Klägerin jeden künftigen materiellen und immateriellen Schaden aus ihrer Geburt zu ersetzen (sog. Feststellungsausspruch).
Das Oberlandesgericht Koblenz bestätigte das Urteil im Dezember 2020 (Aktenzeichen 5 U 836/18).
Aufklärungsfehler bestätigt
Die Verurteilung des Arztes beruhte darauf, dass er die Kindesmutter nicht darüber aufgeklärt hatte, dass aufgrund der bereits im Jahre 2003 durchgeführten Kaiserschnittentbindung und der jetzt mittels Prostaglandin eingeleiteten Vaginalgeburt ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer Uterusruptur bestand.
Der Arzt hätte die Kindesmutter zudem darüber aufklären müssen, dass eine erneute Kaiserschnittentbindung in der vorliegenden Situation eine echte Alternative zu der angestrebten vaginalen Geburt darstellte.
Was sagte der Bundesgerichtshof?
Die Klägerin begehrte weitere 180.000 € Schmerzensgeld und legte Revision ein. Der BGH bestätigte jedoch die Schmerzensgeldbemessung der Vorinstanzen. Die obersten Zivilrichter hoben in der Urteilsbegründung hervor, dass für die Höhe des Schmerzensgeldes im Wesentlichen folgende Faktoren maßgebend sind:
- die Schwere der Verletzungen,
- das dadurch bedingte Leiden,
- dessen Dauer,
- das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigungen durch den Verletzten und
- der Grad des Verschuldens des Schädigers.
Zudem wies der BGH erneut darauf hin, dass das Schmerzensgeld zwei Funktionen hat:
- einen Ausgleich für immaterielle Schäden („Ausgleichsfunktion“) und
- eine gewisse Genugtuung für erlittenes Leid („Genugtuungsfunktion“).
In Arzthaftungsangelegenheiten tritt jedoch die Genugtuungsfunktion etwas zurück.
Darüber hinaus befasste sich der BGH mit weiteren wesentlichen rechtlichen Fragestellungen, allen voran dem taggenauen Schmerzensgeld (erstmals entschieden durch: OLG Frankfurt, Urteil vom 18.10.2018, Az. 22 U 97/16).
Was erwartet der BGH von Geschädigtenanwälten?
Die Richter stellten klar: Die taggenaue Schmerzensgeldberechnung sei ungeeignet und führe zu einer rechtsfehlerhaften Betonung der Schadensdauer. Als nicht mehr nachvollziehbar und damit beliebig bewerteten sie die Annahme eines Tagessatzes, der sich als Prozentsatz des monatlichen Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommens ergebe.
Der BGH betonte, dass es bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht um die isolierte Betrachtung einzelner Umstände gehe, sondern um „eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles. Dabei sind in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht [ …]. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen […], die sich jedoch nicht rein rechnerisch ermitteln lässt [ …].“
Schon in der Vorentscheidung (VI ZR 937/20) hatte der BGH die zu schematische Berechnung von Schmerzensgeldern kritisiert.
Zugleich bekräftigten die Karlsruher Richter, dass es essentielle Aufgabe von Geschädigtenanwälten ist, im Prozess die wesentlichen und individuellen Merkmale des Falls herauszuarbeiten und diese dem Gericht nachvollziehbar darzulegen. Nur wenn der „Einzelfall“ begreifbar und beurteilbar gemacht werde, sei es möglich, geschädigten Menschen zu einem angemessenen Schmerzensgeld zu verhelfen.
Zudem stützt die Entscheidung die bei schwerstgeschädigten Kindern inzwischen etablierten (Mindest-) Schmerzensgeldsummen von 500.000 Euro.
REDAKTION GEBURTSSCHADENSRECHT
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