Taggenaues Schmerzensgeld und warum der BGH nicht mitmacht
Wieviel Euro pro Tag sind Verletzungen wert?
In einer aktuellen Entscheidung (Urteil vom 15.02.2022, Az. VI ZR 937/20) hat sich der Bundesgerichtshof gegen eine taggenaue Ermittlungsmethode bzw. Bemessung von Schmerzensgeldansprüchen Geschädigter ausgesprochen.
Vor einigen Jahren urteilte das OLG Frankfurt in Deutschland erstmalig, dass es bei Geschädigten (seien es Opfer von Behandlungsfehlern oder Unfällen) hinsichtlich der Zuerkennung eines angemessenen Schmerzensgeldes auf eine taggenaue Ermittlung der Leiden ankomme. Dem widersprach der Bundesgerichtshof, weil die mit der taggenauen Bemessung verbunden schematische Herangehensweise die gebotene Gesamtbetrachtung alle Umstände des konkreten Einzelfalls gerade auch im Hinblick auf die künftige Lebensführung der Betroffenen vermissen lasse.
Das Schmerzensgeld soll – vereinfacht ausgedrückt – die sogenannte immaterielle Beeinträchtigung, also die verletzungsbedingt entgangene Lebensfreude entschädigen, bei Dauerschäden also tatsächlich ein Leben lang. Bislang wurde nach gängiger Rechtsprechung ein Kapitalbetrag, also eine Einmalzahlung eines Schmerzensgeldes, oder aber eine monatliche Schmerzensgeldrente geleistet. Zurzeit ist in der Rechtsprechung der Land- und Oberlandesgerichte die Tendenz erkennbar, taggenaue Schmerzensgelder auszuurteilen.
Um den Betrag bemessen zu können müssen sich die Richter mit den maßgeblichen Umständen auseinandersetzen. Rechnet man die bislang zuerkannten Kapitalbeträge auf Tagessätze herunter, stellt man fest, dass in vielen, wenn nicht sogar allen Fällen die ausgeurteilten Beträge einer – gemessen an der Verletzung – geradezu verschwindend geringen täglichen Entschädigung entsprechen. Wurden, wie vom OLG Hamm oder OLG München in den Jahren 2001 und 2005 noch Schmerzensgelder in Höhe von bis zu 45.000 EUR für die Unterschenkelamputation bei einer jungen Frau ausgeurteilt, entspräche das bei Berücksichtigung der statistischen Lebenserwartung einer Entschädigung von 3 EUR pro Tag.
Einmaliger Kapitalbetrag vs. taggenaue Berechnung
Ähnlich verhält sich die Relation bei einem bei der Geburt schwerstgeschädigtem Kind. Selbst wenn ihm im 10. Lebensjahr ein hohes Schmerzensgeld von 500.000 EUR zugesprochen wird, errechnet sich daraus ein taggenaues Schmerzensgeld von gerade einmal 47 EUR. Ist also die Beeinträchtigung eines physisch und psychisch schwerst beeinträchtigten Kleinkindes, das sich weder bewegen, noch artikulieren, geschweige denn selbst versorgen kann und das möglicherweise auch noch apparatetechnischer Versorgung bedarf (PEG-Sonde, Herzmonitor, ggf. Beatmung) bei einer Lebenserwartung von ca. noch 68 Jahren tatsächlich nur 47 EUR am Tag wert? Nach der zurzeit vorherrschenden Rechtsprechung muss man die Frage klar mit „ja“ beantworten.
Zum Vergleich: Der Nutzungsausfall eines unfallgeschädigten Kraftfahrzeugs beträgt zwischen 23 und 175 EUR pro Tag!
Einige Gerichte haben im letzten Jahr durch die sog. taggenaue Rechtsprechung zu erkennen gegeben, dass die bisherige Gerichtspraxis keinesfalls Einzelfallgerechtigkeit herstellen kann. Stattdessen wird nun versucht, eine Bemessungsgrundlage für ein angemessenes taggenaues Schmerzensgeld herzustellen. Die Frage lautet: Wieviel Euro pro Tag sind die Leiden des Geschädigten wert? Hier kommt es dann tatsächlich auf das richterliche Schätzungsermessen an.
Das OLG Frankfurt hat im Jahr 2018 (Az. 22 U 97/16, Az. 22 U 97/16) ein Durchschnittseinkommen in Form des sog. Bruttosozialeinkommens (mtl. 2.670,16 EUR) zugrunde gelegt. Die Beeinträchtigung soll mit einem prozentualen Anteil dieses Einkommens berücksichtigt werden, ähnlich einem Grad der Behinderung. So ergibt sich bei einer 10%igen Beeinträchtigung ein tägliches Schmerzensgeld in Höhe von 267,02 EUR (10% von 2.670,16) Für die weiteren Formen der Genesung (Intensivstation, Normalstation, Reha, ambulant zu Hause) kommen dann prozentuale Abstufungen in Betracht, die dem individuellen Leidensweg Rechnung tragen sollen. Das Landgericht Aurich (Az. 2 O 165/12) hat einem fünfjährigen schwerstverletzten Jungen ein jährliches Schmerzensgeld i.H.v. 10.000 EUR (und damit umgerechnet täglich tatsächlich nur 27,40 EUR) zuerkannt. Hochgerechnet ergab sich ein Gesamtschmerzensgeld von 800.000 EUR.
Der BGH sorgt für Klarheit – keine „taggenaue“ Schmerzensgeldberechnung
Einige Landgerichte und Oberlandesgerichte hatten sich der Tendenz angeschlossen. Der BGH erteilte dem nun eine Absage.
Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen
- die Schwere der Verletzungen,
- das durch diese bedingte Leiden,
- dessen Dauer,
- das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und
- der Grad des Verschuldens des Schädigers.
Dabei gehe es nach Ansicht des BGH nicht um eine isolierte Betrachtung einzelner Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. In erster Linie sind die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist dann eine einheitliche Entschädigung für das Schadensbild festzusetzen. Eine solche Gesamtbetrachtung lasse sich jedoch nicht rechnerisch, also formelhaft ermitteln.
Individuelle Betrachtung des Einzelfalls ist notwendig
Die „taggenaue Berechnung“ des Schmerzensgeldes sah eine schematische Konzentration auf die Anzahl der Tage, die ein Geschädigter etwa auf der Normalstation eines Krankenhauses verbracht hat und die er nach seiner Lebenserwartung mit der dauerhaften Einschränkung voraussichtlich noch wird leben müssen. Sie ließ jedoch wesentliche Umstände des konkreten Falles außer Acht. So blieb unbeachtet, welche Verletzungen ein Geschädigter erlitten hat, wie die Verletzungen behandelt wurden und welches individuelle Leid ausgelöst wurde. Gleiches galt für die Einschränkungen in der zukünftigen individuellen Lebensführung.
Auch die Anknüpfung an die statistische Größe des durchschnittlichen Einkommens (Bruttosozialeinkommen) trägt nach Ansicht des BGH der notwendigen Orientierung an der gerade individuell zu ermittelnden Lebensbeeinträchtigung des Geschädigten nicht hinreichend Rechnung.
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht