Taggenaue Berechnung des Schmerzensgeldes – Vorteil für Mandanten?
Die Frage nach der Angemessenheit von Schmerzensgeld wird seit Jahrzehnten diskutiert und ist immer wieder Gegenstand juristischer und außerjuristischer Debatten. Dabei richtet sich der Blick oft schnell auf die USA und die hohen Entschädigungssummen, die dort gezahlt werden. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die grundsätzliche Frage, wie in einer Gesellschaft, die Gerechtigkeit und Gleichheit als zentrale Werte ansieht, mit dem subjektiven und höchst individuellen Charakter von Schmerz und Leid umgegangen werden soll. Der Ansatz, Schmerz und Leid in Geld auszudrücken, muss doch scheitern, oder?
Neuer Ansatz des OLG Frankfurt zur Schmerzensgeldberechnung sorgt für Diskussion
Eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt (Urteil vom 04.06.2020 – 22 U 34/19) hat neuen Wind in die Diskussion gebracht. Bei der Berechnung des Schmerzensgeldes verfolgte das OLG Frankfurt einen neuen Ansatz, nämlich die Berechnung eines taggenauen Schmerzensgeldes. Es begründete dies wie folgt:
„Der Senat hält allerdings einen Vergleich mit anderen Entscheidungen, sowie auch die Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch des Alters der Verletzten und der Dauer der Beeinträchtigungen im Wege einer pauschalen Betrachtung für unzureichend, um den Umfang der Beeinträchtigungen eines Verletzten gleichmäßig und auch für Geschädigte voraussehbar zu berechnen.“
Der OLG-Senat ist damit von einer jahrzehntelangen Praxis abgewichen. Wie sieht diese aus? Das Schmerzensgeld wird grundsätzlich zunächst in ein Schadensbild eingeordnet. Ein Richter orientiert sich dabei an annähernd vergleichbaren Urteilen, um eine gute Ausgangsbasis zu haben, aber auch um niemanden mit ähnlichem Schädigungsmuster zu bevorzugen oder zu benachteiligen.
BGH hebt neue Berechnungsmethode des OLG Frankfurt für Schmerzensgeld auf
Das OLG Frankfurt versuchte einen neuen Weg und begründete dies im Wesentlichen damit, dass bei einer solchen Betrachtung teilweise Schmerzensgelder (auf die Lebenszeit gesehen) von Centbeträgen herauskämen, wenn man auf den einzelnen Tag herunterrechne. Das müsse man ändern und das Schmerzensgeld an die Leiden und Schmerzen anpassen. Ein mutiger Schritt, der allerdings Anfang 2022 vom Bundesgerichtshof (BGH) kassiert wurde (BGH Urteil vom 23.02.2022 – VI ZR 937/20).
Warum also ist der BGH nicht von der neuen Berechnungsmethode überzeugt, die für den Einzelnen die Chance auf deutlich höhere, zum Teil zehnfach höhere Schmerzensgelder bietet? Der BGH sagt: „Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im Wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei geht es nicht um eine isolierte Schau auf einzelne Umstände des Falles, sondern um eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Diese hat der Tatrichter zunächst sämtlich in den Blick zu nehmen, dann die fallprägenden Umstände zu bestimmen und diese im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dabei ist in erster Linie die Höhe und das Maß der entstandenen Lebensbeeinträchtigung zu berücksichtigen; hier liegt das Schwergewicht. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen, die sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt.„
BGH betont: Schmerzensgeld bedarf umfassender Einzelfallbetrachtung
Was bedeutet das? Der BGH legt besonderen Wert darauf, dass alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Der Richter muss eben nicht nur Faktoren wie die Dauer des Krankenhausaufenthaltes und die Frage, ob es sich um eine stationäre, ambulante oder gar Intensivbehandlung handelt, berücksichtigen. Er muss alle diese Faktoren berücksichtigen und entscheiden, welche davon besonders wichtig sind und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Grad der Beeinträchtigung des Lebens der verletzten Person. Auf der Grundlage dieser Gesamtbetrachtung ist dann eine Gesamtentschädigung festzusetzen, die aber nicht einfach rechnerisch ermittelt werden kann.
Das ist richtig, bleibt aber letztlich unbefriedigend, weil es ohne konkrete Berechnungsmethode einem Anwalt schwer zu vermitteln ist, warum der Geschädigte nun 10.000 € und nicht 100.000 € oder 1.000.000 € erhält. Sie ist aber deshalb richtig, weil viele der letztlich gescheiterten Methoden – wie hier die taggenaue Bemessung – eines gemeinsam haben: Jede dieser Methoden braucht, wenn sie funktionieren soll, ein Korrektiv. Menschliches Leid rechnerisch erfassen zu wollen, funktioniert einfach nicht. Es braucht also ein gewisses Element, das ungerechte Entscheidungen verhindert. Wenn es das aber gibt, kann man sich die ganze Rechnung letztlich auch sparen.
Anwalt-Mandant-Zusammenarbeit zentral bei Personenschäden
Die Zusammenarbeit zwischen Anwalt und Mandant ist entscheidend, um die besonderen Umstände und das individuelle Schicksal des Mandanten umfassend zu berücksichtigen. Um in Schadensfällen, insbesondere bei Schmerzensgeldansprüchen, ein einigermaßen gerechtes Ergebnis zu erzielen, ist es wichtig, die konkreten Auswirkungen der Verletzung oder des Behandlungsfehlers auf den Alltag und die Lebensführung des Mandanten zu verstehen und detailliert zu dokumentieren.
Eine genaue Auflistung aller Lebensbereiche, in denen der Klient Einschränkungen erfährt, ist daher unerlässlich. Diese Auflistung dient nicht nur der Bemessung des Schmerzensgeldes, sondern auch der Geltendmachung weiterer Schadenspositionen, die oft eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen können. Dazu gehören unter anderem:
- Haushaltsführungsschaden: Entsteht, wenn der Geschädigte seinen Haushalt nicht mehr wie vor dem Unfall führen kann und dafür Hilfe benötigt.
- Verdienstausfall: wenn die Verletzungen oder Behandlungsfolgen zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Arbeitsunfähigkeit führen.
- Fahrtkosten: die für Fahrten zu Behandlungen, Therapien oder Gutachterterminen anfallen.
- Medikamentenzuzahlungen: Mehrkosten für Medikamente, die aufgrund der Verletzung notwendig werden.
- Hausumbau: Wenn bauliche Veränderungen in der Wohnung notwendig sind, um ein barrierefreies Leben zu ermöglichen.
- Pflege(mehr)bedarf: Wenn der Geschädigte aufgrund der Verletzungen einen erhöhten Pflegebedarf hat, der über den bisherigen Pflegebedarf hinausgeht.Die Berücksichtigung dieser und weiterer möglicher Schadenspositionen zeigt, wie komplex die Bewertung von Personenschäden sein kann. Eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Anwalt und Mandant ist daher der Schlüssel, um alle relevanten Informationen zu sammeln und eine umfassende und gerechte Entschädigung zu gewährleisten.
Fazit
Insofern geben wir dem BGH Recht und begrüßen die Entscheidung. Sie lässt Raum, das Schicksal des Einzelnen genau aufzuarbeiten und dem Gericht vernünftig zu begründen, warum ein höheres Schmerzensgeld zu zahlen ist. Es ist nach diesem Gedanken auch nicht gesagt, dass der Mandant nicht das gleiche Schmerzensgeld bekommen kann, wie bei der taggenauen Berechnung. Es ist dann eben Aufgabe des Anwalts und des Mandanten, dies entsprechend gut zu begründen.
Rechtsanwalt Alexander Rüdiger, Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Versicherungsrecht
Lehrbeauftragter der Universität Siegen