Rekord-Schmerzensgeld: 800.000 € für Hirnschaden nach Routine-OP
Den Fall, den das Landgericht Gießen (Urteil vom 06.11.2019, Az. 5 O 376/18) zu entscheiden hatte, kann man dahingehend zusammenfassen, dass ein scheinbar harmloser Nasenbeinbruch, den sich ein 17-jähriger Teenager im Jahr 2013 beim Fußballspielen zugezogen hatte, zu einem dauerhaften und schwerwiegenden Gesundheitsschaden führte.
Die Ärzte des Universitätsklinikums Gießen empfahlen, den Nasenbeinbruch im Rahmen einer gerade einmal 15-minütigen Routineoperation zu behandeln. Bei der Operation kam es jedoch zu einem schwerwiegenden Behandlungsfehler: Dem Gericht zufolge waren die Schläuche beim Beatmungsgerät falsch eingesteckt worden. Hierdurch kam es während der Operation zu einer Sauerstoffunterversorgung und in deren Folge zum Hirnschaden.
Die Besonderheit dieser Gerichtsentscheidung liegt darin, dass für einen sich bereits im Teenageralter befindlichen Geschädigten ein Schmerzensgeld weit über 500.000 EUR ausgeurteilt wurde. Ein Schmerzensgeld in solcher Höhe ist eher bei Geburtsschäden mit schwerem Gesundheitsschaden üblich.
800.000 EUR Schmerzensgeld angemessen für schwersten Hirnschaden
In der Urteilsverkündung erklärten die Richter des Landgerichts Gießen, dass der Klinik ein Fehler unterlief, der hätte vermieden werden können.
Das Landgericht sprach dem jungen Kläger zu den bereits vorgerichtlich vom Versicherer des Universitätsklinikums Gießen gezahlten 500.000 EUR ein weiteres Schmerzensgeld von 300.000 EUR zu.
Für die Richter war die Höhe des Schmerzensgeldes vor allem dem Umstand geschuldet, dass der Kläger noch sehr jung war. Den erlittenen Gesundheitsschaden beschrieben die Richter als sehr schwerwiegend und kaum vorstellbar. Sie berücksichtigten beim Schmerzensgeld auch den Umstand, dass der zum Urteilszeitpunkt inzwischen 23-Jährige durch den schweren Hirnschaden seine Persönlichkeit eingebüßt hat und ein Leben lang gepflegt und betreut werden muss.
Der heute 23-Jährige leidet unter anderem an dem sogenannten Apallischen Syndrom. Er liegt im Wachkoma, bedarf einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung und muss über eine Magensonde ernährt werden. Ein eigenständiges Leben wird ihm nie möglich sein.
Das Urteil des Landgerichts reiht sich ein in die gerade in den letzten Jahren zu beobachtenden hohen Schmerzensgeldurteile bei Schwerstgeschädigten, wie z.B. das aktuelle Urteil des OLG Oldenburg. Eine vor allem für die Schwerstgeschädigten, aber auch für deren Familien, erfreuliche und richtige Entwicklung.
Am 23.11.2018 hat das Landgericht Aurich in einem Arzthaftungsprozess eines zum Behandlungszeitpunkt erst 5-jährigen Kindes ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000 EUR nebst Zinsen zugesprochen. Der junge Kläger hatte durch den Verlust beider Unterschenkel jeweils knapp unter dem Kniegelenk und der Notwendigkeit von Muskellappentransplantation sowie wiederholter großflächiger Spalthauttransplantationen schwerste körperliche Beeinträchtigungen erlitten. Der Umstand, dass der junge Kläger sein ganzes Leben lang körperlich schwerst behindert bleiben würde, wirkte sich auf die Höhe des Schmerzensgeldes aus.
Während das OLG Frankfurt in seiner Entscheidung vom 18.10.2018 (Az. 22 U 97/16), als erstes Berufungsgericht bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ein sogenanntes taggenaues Schmerzensgeld zusprach, hat das LG Aurich eine Art Gegenprobe gemacht, um die Angemessenheit des Schmerzensgeldbetrages zu überprüfen. Das LG Aurich nahm an, dass der zum Schadenzeitpunkt erst 5 Jahre alte Junge bis zum Erreichen des 80. Lebensjahres (so die statistische restliche Lebenserwartung) dauerhaft mit den erlittenen Beeinträchtigungen leben muss. Es teilte den Gesamtschmerzensgeldbetrag rechnerisch auf diese Lebenserwartung des Klägers auf und kam zu einem Jahresschmerzensgeldbetrag von unter 10.000 EUR bzw. rund 800 EUR monatlich.
Die Kammer wörtlich: „Das erscheint der Kammer angemessen, um dem Kläger im Rahmen des Möglichen eine Genugtuung für den erlittenen Schaden zu verschaffen.“
Der Beklagte bzw. der dahinterstehende Haftpflichtversicherer hatte die Sorge geäußert, durch solche Einzelfallentscheidungen könnte das Schmerzensgeldgefüge durcheinandergebracht werden.
Die Richter des Landgerichts Aurich nahmen dies zur Kenntnis, erklärten aber unmissverständlich, dass diese Sorge „hinter dem individuellen Kompensationsinteresse des Klägers“ als lediglich abstrakten Gesichtspunkt zurücktreten müsse.
Schmerzensgelderhöhung (auch) wegen zögerlicher Regulierungspraxis und niedrigem Zinsniveau
Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes durch das Landgericht Gießen im eingangs beschriebenen Fall, wurde auch die wirtschaftliche Lage mit der Niedrigzinsphase und die völlig inadäquate Schadenregulierung des hinter dem Universitätsklinikum stehenden Haftpflichtversicherers in der vorgerichtlichen Verhandlungsphase berücksichtigt. Die geleisteten Vorschüsse erachteten die Richter als zu gering und die gesamte außergerichtliche Regulierungspraxis des Versicherers als schleppend.
Rechtsprechung als Regulierungsinstrument
Ein solches Statement eines Gerichtes ist wichtig, um der Versicherungswirtschaft zu signalisieren, dass völlig unangemessene Vorschusszahlungen auf das Schmerzensgeld und den Schadenersatz, aber auch die Dauer einer solchen außergerichtlichen Regulierung, nicht sanktionslos bleiben und sich in der Erhöhung des gerichtlich ausgeurteilten Schmerzensgeldes niederschlagen.
Es kann und darf nicht sein, dass ein Schwerstgeschädigter, trotz Anspruch auf angemessene Vorschusszahlungen und eine angemessene Regulierung seines Schadenersatz- und Schmerzensgeldbetrages, sozusagen zum Bittsteller degradiert wird.
Solche Urteile sind auch ein positives Signal an diejenigen Versicherer, die in der außergerichtlichen Regulierungspraxis angemessen regulieren und den Schwerstgeschädigten nicht im Regen stehen lassen bzw. ihn nicht in einen langjährigen und häufig auch risikobehafteten Prozess zwingen.
Vor über 20 Jahren setzte das OLG Frankfurt mit seinem Urteil (07.01.1999, Az. 12 U 7/98) bereits ein klares Signal und verdoppelte das Schmerzensgeld mit der Begründung, die Versicherung habe sich in kaum verständlicher und zu missbilligender Weise einem berechtigten Verlangen nach Entschädigung entgegengestellt. Die Versicherung habe ihre Machtposition als wirtschaftlich stärkere Partei in geradezu unanständiger Weise ausgenutzt und ein solches Verhalten könne nicht hingenommen werden. Wörtlich heißt es: „[…] Hierin zeigt sich ganz besonders die gehäuft zu beobachtende Einstellung mancher Haftpflichtversicherter, den Gläubiger unzweifelhaft berechtigter Ansprüche geradezu als lästigen Bittsteller zu behandeln und mit kaum zu überbietender Arroganz die Regulierung selbst berechtigter und unstreitiger Ansprüche zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil in die Länge zu ziehen. Es ist an der Zeit, nochmals zu wiederholen, was bereits das OLG Karlsruhe im Jahre 1972 (NJW 1973, 851) dem Versicherungsgewerbe ins Stammbuch geschrieben hat: Die Haftpflichtversicherungen sind verpflichtet, von sich aus die Schadenregulierung zu fördern. […] Hier ist folglich der ersatzberechtigte Privatmann gegenüber derartigen, in ihrer Wirkung potentiell zermürbenden Zahlungsverweigerung schon grundsätzlich darauf angewiesen, dass die Rechtsordnung seine Schwäche erkennt und schützt, und insbesondere darauf, dass eine aufmerksame Rechtsprechung darüber wacht, dass diese Schwäche nicht durch die Wirtschaftsmacht der Versicherungen ausgenützt wird. Hier kommt der Rechtsprechung die Aufgabe zu, aufgetretene Nachteile wiedergutzumachen und künftigen Missbräuchen vorzubeugen; […]“ (vertiefend hierzu der Beitrag: Unangemessene Schadensregulierung erhöht das Schmerzensgeld)
In den vergangenen Jahrzehnten haben immer wieder verschiedene Gerichte durch eine empfindliche Erhöhung des Schmerzensgeldes der inadäquaten Schadensregulierung der jeweiligen Versicherer Rechnung getragen, so nun auch das Landgericht Gießen in seiner jüngsten Entscheidung.
Um Schwerstgeschädigten solch hohe Schmerzensgeldzahlungen zu ermöglichen, ist es für einen Patientenanwalt ganz entscheidend, den Behandlungsfehler, dessen Schwere und insbesondere die Folgen für den geschädigten Mandanten exakt darzulegen und auch unter Beweis zu stellen.
Die Bemessung des Schmerzensgeldes hängt von verschiedenen Faktoren ab, die es gilt, nachvollziehbar vorzutragen. Sich bei der Begründung des beantragten Schmerzensgeldes kurz zu fassen, kann fatale Folgen haben.
Wichtig ist daher, mit der Klage eine gut begründete Schmerzensgeldforderung vorzubringen, die dem Gericht Anhaltspunkte liefert, um ein angemessenes Schmerzensgeld auszuurteilen.