Schadensersatzansprüche unter der Lupe – der Erwerbsschaden
Nach Unfällen oder Behandlungsfehlern drohen Geschädigten erhebliche finanzielle Einbußen. Umso wichtiger ist es, den Erwerbsschaden korrekt zu berechnen und einen angemessenen Schadensersatz durchzusetzen. Welche Grundsätze sind hier zu beachten – und welche Fallstricke lauern?
Bevor die Verhandlungen über die Höhe des Schadensersatzes beginnen, gilt es, sämtliche Schadenspositionen zu ermitteln. Neben dem dem Schmerzensgeld, das zum immateriellen Schaden zählt, gibt es eine Vielzahl von materiellen Schadensersatzpositionen.
Eine zentrale Rolle spielt der sogenannte Erwerbsschaden, auch Verdienstausfall genannt. Dabei handelt es sich um die Mindereinnahmen, die Geschädigte hinnehmen müssen, weil sie nicht mehr oder nur noch eingeschränkt arbeiten können.
Erwerbsschaden: Soll-Einkommen minus Ist-Einkommen
Der Erwerbsschaden ist die Differenz zwischen den Einnahmen, die Geschädigte ohne den Unfall oder Behandlungsfehler voraussichtlich erzielt hätten („Soll-Einkommen“) und den tatsächlichen Einnahmen („Ist-Einkommen“). Ermittelt wird der Nettobetrag. Anfallende Steuern können auch noch nach deren Festsetzung nachträglich erstattet werden – vorausgesetzt, die Parteien haben diesen sogenannten Steuervorbehalt in der Abfindungsvereinbarung vorgemerkt.
Zum Erwerbsschaden gesellt sich noch der Rentenschaden. Denn wer weniger verdient, zahlt auch weniger in die Rentenversicherung ein. Geschädigte können den Rentenschaden allerdings nicht selbst geltend machen. Das übernimmt der Rentenversicherungsträger, indem er die zu wenig gezahlten Rentenbeiträge beim Schädiger nachfordert. Es ist daher sehr wichtig, die Rentenversicherung über den Erwerbsschaden zu informieren.
Absehbare Gehaltserhöhungen sind zu berücksichtigen
Das Soll-Einkommen setzt sich zusammen aus sämtlichen Zahlungen, die Geschädigte ohne den Unfall oder den Behandlungsfehler von ihrem Arbeitgeber erhalten hätten. Hierzu zählen auch Sonderzulagen und absehbare Gehaltserhöhungen, zum Beispiel durch Beförderungen (wenn ausreichende Anknüpfungstatsachen vorliegen).
Abzuziehen sind die ersparten Aufwendungen, also die Ausgaben, die wegen der Arbeitsunfähigkeit nicht anfielen, etwa Fahrtkosten oder Essensaufwendungen.
Basis für die Ermittlung des Soll-Einkommens sind die letzten zwölf Monate vor dem Unfall oder Behandlungsfehler. Wichtig: Zahlungen freiwillig abgeschlossener Zusatzversicherungen wie z.B. privater Berufsunfähigkeits- oder Unfallversicherungen werden nicht aufs „Soll“ angerechnet. Sie mindern den Erwerbsschaden also nicht.
Was, wenn Geschädigte mehr als das Zumutbare leisten?
Als Ist-Einkommen nach dem Unfall oder Behandlungsfehler kommen verschiedene Entgeltersatzleistungen in Frage. Ein Schaden entsteht aber regelmäßig erst nach Ablauf der Entgeltfortzahlung, sobald Geschädigte Krankengeld erhalten. Dieses wird später oft durch Arbeitslosengeld und/oder Erwerbsunfähigkeitsrente abgelöst.
Auch Arbeitseinkünfte gehören oft zum Ist-Einkommen. Denn im Schadensrecht gilt der Grundsatz, dass Geschädigte ihre Arbeitskraft im Rahmen des Zumutbaren so gut wie möglich einsetzen müssen. Wenn sie weiterhin – wenn auch nicht wie bisher – arbeiten können, sind sie somit auch dazu verpflichtet („Schadensminderungspflicht“). Das Einkommen wird dann auf den Verdienstausfall angerechnet.
Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, muss hinnehmen, dass der Erwerbsschaden entsprechend gekürzt wird. Umgekehrt gilt: Leisten Geschädigte mehr als das Zumutbare, mindern die daraus resultierenden Mehreinahmen den Schaden nicht.
Was vor Umschulungen besonders wichtig ist
Im Rahmen der Schadensminderungspflicht kann auch eine Umschulung notwendig sein, wenn Geschädigte ihren alten Beruf nicht mehr ausüben können – zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder wegen einer Querschnittlähmung.
Vor einer Umschulung ist zunächst genau zu prüfen, ob die angestrebte Tätigkeit den Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Neben der Agentur für Arbeit als klassischem Ansprechpartner für Umschulungen, können hier private Reha-Dienste helfen. Ihre Aufgabe ist es, Geschädigte bei der möglichst vollständigen Wiedereingliederung in ihr privates, soziales und berufliches Umfeld zu unterstützen.
Unsere Erfahrung zeigt, dass die Chancen auf eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung deutlich steigen, wenn ein Reha-Dienst mit im Boot ist. Die Kosten übernimmt häufig die gegnerische Haftpflichtversicherung.
Fallstricke im Sozial- und Versicherungsrecht
Im Zusammenhang mit der Ermittlung und Durchsetzung eines Erwerbsschadens tauchen oft weitere rechtliche Probleme auf. So ergeben sich beim Krankengeld, der Erwerbsunfähigkeitsrente und bei Reha-Aufenthalten vielfältige sozialrechtliche Fragen. Immer wieder werden Leistungen nicht gewährt oder nicht verlängert.
Ein weiterer Fallstrick, der uns immer wieder beschäftigt: Der gleichzeitige Bezug von Berufsunfähigkeitsleistungen und von Krankentagegeld ist gesetzlich ausgeschlossen. Deshalb kann es vorkommen, dass die Krankentagegeldversicherung bei längeren Krankheitsverläufen die Zahlung mit dem Hinweis auf eine Berufsunfähigkeit einstellt – während die Berufsunfähigkeitsversicherung gleichzeitig die Berufsunfähigkeit bestreitet und ebenfalls die Leistung verweigert.
Um angemessenen Schadensersatz durchzusetzen und sämtliche weiteren Hürden zu überwinden, ist Expertise und Erfahrung gefragt. Betroffene sollten sich deshalb an eine auf Personenschadensrecht spezialisierte Kanzlei wenden, in der idealerweise auch Fachanwälte für Sozial- und Versicherungsrecht arbeiten.
Rechtsanwalt Sven Wilhelmy, Fachanwalt für Medizinrecht
spezialisiert auf die Vertretung von Menschen mit Querschnittlähmungen nach einem Arztfehler.