Schmerzensgeldtabellen – warum sie kritisch zu sehen sind
Es gibt drei wesentliche Gründe dafür, warum Schmerzensgeldtabellen kritisch zu sehen sind:
- Schmerzensgeldtabellen berücksichtigen die Entwicklung der Rechtsprechung nicht ausreichend
- Schmerzensgeldtabellen berücksichtigen den Einzelfall nicht ausreichend
- Schmerzensgeldtabellen berücksichtigen nur Urteile, keine Vergleiche
Die Entwicklung der Rechtsprechung
Vergleichsurteile können niemals aktuell sein. Daran kann die sogenannte Indexanpassung auch nur wenig ändern. Denn gerade ältere Vergleichsurteile können die Tendenz zu höheren Schmerzensgeldern nicht berücksichtigen. Der Vorsitzende Richter am OLG Köln a.D. Jaeger stellte in einer Veröffentlichung hierzu fest, „…dass Instanzgerichte lange Zeit nur auf alte Entscheidungen zurückgreifen konnten, die wiederum Erkenntnisse verwerten, die viele Jahre vor dem Entscheidungsjahr lagen. Auf diese Weise mussten Erkenntnisse zur Schmerzensgeldhöhe stets Jahre, oft Jahrzehnte, hinter der wirtschaftlichen Entwicklung herhinken, eine Dynamik konnte sich nicht einstellen.“ (Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, 3. Auflage 2006, S. 7)
Der Einzelfall
Kein Fall ist wie ein anderer. Stets müssen alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Dies bestätigt auch die Rechtsprechung, wie beispielsweise das Kammergericht in Berlin: „…soweit die Beklagten unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz vermeintlich vergleichbare Entscheidungen zitiert haben, sei angemerkt, dass eine solche Gleichbehandlung faktisch nicht realisierbar ist. Entscheidungen vergleichbarer Fälle mögen im Vorfeld der Entscheidungsfindung Orientierungsgesichtspunkte bieten, können jedoch nicht Grundlage der Schmerzensgeldbemessung des konkreten Falls im Urteil sein…. aus diesem Grund sieht der Senat keine Veranlassung sich mit der von den Beklagten zitierten Entscheidungen auseinander zu setzen. Es ist ausschließlich der vorliegende Einzelfall zu beurteilen…“ (KG Berlin, GesR 2005, S. 501; so auch schon: BGHZ 18, 167)
Schmerzensgeldtabellen berücksichtigen keine Vergleiche
Der vielleicht schwerwiegendste Kritikpunkt ist der, dass Schmerzensgeldtabellen nur Urteile und keine Vergleiche veröffentlichen.
Und genau aus diesem Grunde wird innerhalb der Versicherungsbranche empfohlen, eher einen Vergleich als ein Urteil anzustreben (so auch: Jörg-Christian Deisler: Aktuelle Entwicklungen beim Ersatz des immateriellen Schadens – Quo Vadis Schmerzensgeld? Versicherungswirtschaft, 2006, Seite 989, 990). Dabei wird es selbstverständlich das Interesse der Versicherungsbranche sein, dass gerade hohe – im Rahmen eines Vergleiches gezahlte – Schmerzensgelder nicht ausgeurteilt und damit veröffentlicht werden. Gerade diese hohen Schmerzensgelder sind es aber, die die tatsächliche Entwicklung der Schmerzensgeldhöhe abbilden und im Übrigen auch voranbringen.
Dies bestätigt auch die Statistik meiner Prozesse im Arzthaftungsrecht, die ich in den letzten 10 Jahren an über 100 Landgerichten in Deutschland geführt habe: Weniger als 5 % dieser Prozesse endeten durch stattgebendes (also obsiegendes) Urteil, weit mehr als 95 % der Prozesse endeten entweder in einem gerichtlichen Vergleich oder anders.
Daraus lässt sich also schlussfolgern, dass ein stattgebendes Urteil, das eine konkrete Schmerzensgeldhöhe ausurteilt, absoluten Ausnahmecharakter besitzt. Die weit überwiegende Regel im Falle des prozessualen Obsiegens stellt vielmehr der gerichtliche Vergleich dar und diese Vergleiche werden in den Tabellen nicht erfasst.
Rechtsrealität und Rechtsentwicklung
Wenn nun offenbar jedoch eine zweigleisige Entwicklung der Schmerzensgeldhöhe in Deutschland existiert, nämlich in Urteilen und in Vergleichen, wenn die hohen und höchsten Schmerzensgelder jedoch eher oder gar weit überwiegend im Wege von Vergleichen gezahlt werden, so könnte die vollständige Rechtsrealität und Rechtsentwicklung in Deutschland nur dann in den Tabellen richtig abgebildet werden, wenn auch die Vergleiche dort dargestellt würden. Solange das nicht geschieht, besteht die Gefahr, dass der Geschädigte sich selbst benachteiligt, wenn er sich auf Schmerzensgeldtabellen beruft.
Ein aktuelles Beispiel belegt dies sehr gut: Im Juni 2014 wurde in einem Fall des Anwaltsbüros Quirmbach und Partner vor dem Senat des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main (14 U 99/11) ein gerichtlich protokollierter Vergleich gemäß § 278 Abs. 6 ZPO über eine Schmerzensgeldhöhe von 700.000,00 € geschlossen. Hierbei handelt es sich um das bis dahin höchste bekannte Schmerzensgeld in einem gerichtlichen Vergleich in Deutschland. Hätte eine Orientierung an den Urteilen der Schmerzensgeldtabellen stattgefunden, so wäre dieser Vergleich nicht möglich gewesen. Vergleichsurteile hätten allenfalls eine Dimension in Höhe von 500.000,00 € bis maximal 600.000,00 € ermöglicht.
Fazit
Schmerzensgeldtabellen haben in der gegenwärtigen Form primär eine historische Bedeutung. Bei der Ermittlung des konkreten Schmerzensgeldes in dem konkreten Fall sind sie nur sehr eingeschränkt (wenn überhaupt) geeignet.