Die neue Leitlinie zum Kaiserschnitt – medizinisch-rechtliche Entlastung für Geburtshelfer?
Die Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie (DGGG) hat im Juni 2020 erstmals eine umfassende Leitlinie zum Thema der Kaiserschnittentbindung (sectio caesarea) erstellt.
Dies ist für den auf Geburtsschadensrecht spezialisierten Medizinjuristen in zweierlei Hinsicht von großer Bedeutung:
- Leitlinien geben den medizinischen Standard wieder und eröffnen einen gewissen Handlungskorridor, innerhalb dessen sich der medizinische Standard im Bereich der jeweiligen geburtshilflichen (ärztlichen) Leistung bewegt.
- In nahezu jedem geburtshilflichen Schadensfall spielt die Kaiserschnittentbindung eine zentrale Rolle. Gegenstand des Vorwurfs ist häufig, dass eine Sectio nicht früher oder gar nicht durchgeführt wurde. Zudem wird die werdende Mutter nicht immer rechtzeitig über die ihr zustehende geburtshilfliche Entbindungsalternative der Sectio aufgeklärt.
Die jetzt veröffentlichte Leitlinie der DGGG regelt erstmals quasi verbindlich das Vorgehen bei einer Sectio in Bezug auf
- Aufklärung/Beratung
- Indikation
- Durchführung.
Neuregelung der geburtshilflichen Betreuung
Darüber hinaus wird auch die geburtshilfliche Betreuung im sogenannten „Zustand nach Sectio caesarea“ neu geregelt.
Aus Sicht des Patientenvertreters rückt die neue Leitlinie die Patientenautonomie und damit die Willensbildung der werdenden Mutter stark in den Hintergrund. Sie betont in mehrfacher Hinsicht, wie gering die mütterlichen Risiken bei einer vaginalen Geburt und wie verhältnismäßig hoch die Risiken für die Mutter bei einer Sectio seien. Hinsichtlich der abzuwägenden kindlichen Risiken verweist die neue Leitlinie auffallend häufig auf fehlende Evidenz („Risiken … unklar“) und damit auf die Bedeutungslosigkeit kindlicher Risiken für den Abwägungsprozess. Diese Risiken sind nach dem Wortlaut der Leitlinie zu vernachlässigen.
Mütterliche Morbidität und Risikoabwägung
Relativ häufig wird im Rahmen der Risikoabwägung nach der neuen Leitlinie eine erhöhte „mütterliche Morbidität“ festgestellt. Dies bedeutet, dass die Durchführung einer Sectio in bestimmten Konstellationen mit höheren gesundheitlichen Risiken für die werdende Mutter verbunden ist. Risiken für das Kind werden in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. Weder bei Zwillingsschwangerschaften noch bei Zustand nach Sectio, bei Zustand nach Beckenendlage oder bei drohender Frühgeburtlichkeit sollen den werdenden Müttern nach der neuen Leitlinie Kaiserschnittentbindungen „routinemäßig“ angeboten werden.
Fragwürdig ist das abgestufte Beratungskonzept zum Thema „Wunschsectio“: Der Wunsch der Mutter soll intensiv hinterfragt werden. Sie muss über mehrere Hürden hinweg argumentieren, bevor ihr – ausnahmsweise – „dieser Wunsch gewährt“ werden kann. Man muss sich ein solches Beratungsszenario in der Praxis einmal vorstellen.
Was ist aus Sicht des Patientenanwaltes von der Leitlinie zu halten?
Die Leitlinie mag eine Bestätigung für jene Geburtshelfer (und Gutachter) sein, die in der Beratung der werdenden Mütter schon immer den vaginalen Geburtsweg bevorzugt haben. Sie ist vor allem auch als Reaktion auf den von Geburtshelfern häufig beklagten Trend zu immer mehr Kaiserschnittentbindungen und die allgemein hohe Kaiserschnittrate zu sehen.
Was in der Leitlinie letztlich fehlt, sind Grundlagen und auch für Geburtshelfer erhellende Ausführungen zum sog. „informed consent“, also der umfassenden Aufklärung und Information der Patientin bei Vorliegen einer Risikokonstellation.
Wenn nach Auffassung der DGGG der werdenden Mutter auch bei Vorliegen einer Zwillingsschwangerschaft und z.B. bei Zustand nach Sectio, bei Beckenendlage oder auch bei Frühgeburtlichkeit die Entbindungsvariante Kaiserschnitt nicht mehr routinemäßig angeboten werden muss, kann dies keinesfalls bedeuten, dass die werdende Mutter nun nicht mehr über die bei ihr vorliegende Risikokonstellation aufgeklärt werden muss. Erst nach erfolgter Aufklärung kann sie eine selbstbestimmte Entscheidung über den von ihr bevorzugten Geburtsmodus treffen.
Kritik am Wegfall des „informed consent“
Die Leitlinie scheint ihrem Wortlaut nach ein Schritt in Richtung „einsame Entscheidung“ des Geburtshelfers und ein Schritt weg vom „informed consent“ der werdenden Mutter zu sein, also ein „außen vor lassen“ der Mutter bei der Entscheidung für oder gegen eine Sectio. Dies widerspricht dem Grundsatz, dass die werdende Mutter nicht nur über ihre eigene medizinische Behandlung entscheiden darf, sondern auch „Sachwalterin“ der Interessen ihres Kindes ist. Sie allein und nicht der Arzt/Geburtshelfer/Hebamme entscheidet über das Wohl und Wehe des Kindes, auch wenn manche Ärzte dies glauben und leben. Nur die aufgeklärte Mutter entscheidet, welchen Geburtsweg sie wählt und welche Risiken sie für sich und das Kind (!) eingehen will. Es ist – ausschließlich – Aufgabe des Arztes, die Kindsmutter umfassend über ihren Zustand, mögliche Risiken und die verschiedenen Geburtsmodi aufzuklären.
Immerhin weist die Leitlinie auf Folgendes hin:
„In Deutschland wird der Schwangeren ein erhebliches Mitsprache- bzw. Selbstbestimmungsrecht bei der Entscheidung eingeräumt, ob sie für sich etwas höhere Risiken verbunden mit verringerten Risiken für den Feten bzw. umgekehrt eingehen möchte (BGH Senatsurteil 16.2.1993-VI ZR 300/91, aaO S. 704).“
So hat der Bundesgerichtshof zuletzt 2014 klargestellt, dass „… wenn für den Fall, dass die Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernstzunehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt“ keine einsame Entscheidung des Arztes über den Geburtsweg erfolgen darf.
„In einer solchen Lage darf sich der Arzt nicht eigenmächtig für eine vaginale Geburt entscheiden. Vielmehr muss er die Mutter über die für sie und das Kind bestehenden Risiken sowie über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Entbindungsmethoden aufklären und sich ihrer Einwilligung für die Art der Entbindung versichern (…). Gleiches gilt, wenn aufgrund konkreter Umstände die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass im weiteren Verlauf eine Konstellation eintritt, die als relative Indikation für eine Schnittentbindung zu werten ist. Eine – vorgezogene – Aufklärung über die unterschiedlichen Risiken und Vorteile der verschiedenen Entbindungsmethoden ist deshalb bereits dann erforderlich, wenn deutliche Anzeichen dafür bestehen, dass sich der Zustand der Schwangeren bzw. der Geburtsvorgang so entwickeln können, dass die Schnittentbindung zu einer echten Alternative zur vaginalen Entbindung wird (…). Denn nur dann wird das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren, die die natürliche Sachwalterin der Belange auch des Kindes ist (vgl. Senatsurteil vom 17. Mai 2011 – VI ZR 69/10, VersR 2011, 1146 Rn. 10), gewahrt. Bei der Wahl zwischen vaginaler Entbindung und Schnittentbindung handelt es sich für die davon betroffene Frau um eine grundlegende Entscheidung, bei der sie entweder ihrem eigenen Leben oder dem Leben und der Gesundheit ihres Kindes Priorität einräumt. Das Recht jeder Frau, selbst darüber bestimmen zu dürfen, muss möglichst umfassend gewährleistet werden (vgl. Senatsurteile vom 16. Februar 1993 – VI ZR 300/91, VersR 1993, 703, 704; vom 17. Mai 2011 – VI ZR 69/10, VersR 2011, 1146 Rn. 11).“ (Bundesgerichtshof, Urt. v. 28.10.2014 – VI ZR 125/13)
Es bleibt abzuwarten, ob sich die neue Leitlinie auch in dieser Hinsicht in der gerichtlichen Praxis „bewähren“ wird.
REDAKTION GEBURTSSCHADENSRECHT
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