Das Familienprivileg – berechtigte Ansprüche nicht liegen lassen!
Jedes Jahr werden rund 1000 Kinder als Beifahrer im Auto schwer verletzt. In einigen Fällen haben sie Anspruch auf doppelten Schadensersatz.
Immer wieder liest man in der Presse von tragischen Unfällen, bei denen nicht nur der Fahrer, sondern auch Angehörige schwer verletzt wurden. Zuletzt hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) im Dezember 2021 mit einem solchen Fall befasst: Eine Mutter hatte einen Unfall verursacht, bei dem ihr kleiner Sohn sehr schwer verletzt wurde. Der Junge wird voraussichtlich für den Rest seines Lebens pflegebedürftig bleiben.
Leider kein Einzelfall: Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes werden in Deutschland jährlich rund 1000 Kinder unter 15 Jahren als Beifahrer schwer verletzt.Ein nicht unerheblicher Teil dieser Unfälle dürfte durch Angehörige als Fahrer verursacht worden sein.
Aus rechtlicher Sicht ist klar, dass ein geschädigter Beifahrer Schadensersatzansprüche gegenüber der Haftpflichtversicherung des Fahrzeugs geltend machen kann, in dem er mitgefahren ist. Das gilt unabhängig davon, ob der Fahrer dieses Fahrzeugs oder ein Unfallgegner den Unfall verursacht hat. Geschädigte müssen sich in solchen Fällen also nicht um die Schuldfrage kümmern. Sie können allein aus der Betriebsgefahr des Fahrzeugs vollen Schadensersatz erlangen.
Ungekürzter Schadensersatz
Kinder und andere Angehörige haben unter Umständen sogar die Chance, von der Haftpflichtversicherung einen deutlich höheren Schadensersatz zu erhalten als andere Geschädigte. Denn wenn der Fahrer ein Familienangehöriger war, der mit dem Beifahrer in häuslicher Gemeinschaft lebt, hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unter bestimmten Voraussetzungen eine interessante Möglichkeit eröffnet, die selbst vielen Juristen wenig bekannt ist: das Familien- oder Angehörigenprivileg, das für Schadensfälle bis zum 1. Januar 2021 gilt.
Diese Möglichkeit steht im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Forderungsübergang auf den Sozialversicherungsträger, also z.B. auf die Krankenkasse, die Pflegekasse oder die Rentenversicherung: In der Regel geht der Schadensersatzanspruch auf den Sozialversicherungsträger über, der aufgrund des Unfalls Leistungen zu erbringen hat.
Dieser Forderungsübergang war jedoch bis zum 1. Januar 2021 für Schadensfälle gesetzlich ausgeschlossen, wenn Personen durch Angehörige geschädigt wurden. Dies hatte zur Folge, dass Geschädigte ihre Schadensersatzansprüche ungekürzt gegenüber der Haftpflichtversicherung geltend machen konnten. Sie mussten sich also Leistungen der Sozialversicherungsträger nicht anrechnen lassen.
Ansprüche prüfen lassen
Und es kommt noch besser: Dise ist weiterhin möglich, soweit die Ansprüche nicht verjährt sind. Geschädigte Angehörige, die z.B. eine Erwerbsminderungsrente beziehen können in solchen Fällen also ihren Erwerbsschaden zusätzlich und ungekürzt um die Leistung der Rentenversicherung geltend machen.
Im Ergebnis erhalten sie also eine doppelte Erwerbsminderungsrente, nämlich einmal von der Rentenversicherung und einmal von der Haftpflichtversicherung. Entsprechendes gilt z.B. für Pflegegeld und dem Pflegemehrbedarf.
Die Rechtsprechung des BGH mit dem auch für viele Juristen merkwürdigen Ergebnis einer doppelten Entschädigung, beruhte letztlich auf einer ungenauen gesetzlichen Regelung im Sozialgesetzbuch. Leider hat der Gesetzgeber diese Lücke inzwischen geschlossen, aber viele Ansprüche dürften noch nicht verjährt sein.
Wer vor dem 01.01.2021 von einem Angehörigen geschädigt wurde, sollte daher unbedingt die Möglichkeit eines zusätzlichen Schadensersatzes prüfen lassen. Hierzu empfiehlt sich die Einschaltung eines auf Personenschadensrecht spezialisierten Rechtsanwalts.
Rechtsanwalt Mathias Holl, LL.M. (Versicherungsrecht) – Fachanwalt für Verkehrsrecht