Richterbund warnt vor Personalengpass mit katastrophalen Folgen
Die Nachricht von Personalengpässen im Bereich der Justiz ging vor wenigen Tagen durch die Medien. Danach fehlen schon bald mindestens 2000 Richter und Staatsanwälte, da ein Großteil dieser Justizmitarbeiter sich demnächst in den Ruhestand verabschiedet.
Auffallend bei dieser Nachricht und der entsprechenden Kommentierung ist die Tatsache, dass offenbar nur bzw. überwiegend der strafrechtliche Bereich betroffen sein soll. „Immer mehr Untersuchungsgefangene müssen aus der U-Haft entlassen werden, weil die Verfahren überlang dauern.“
Gesetzesnovellen zur Beschleunigung der Verfahren haben das Ziel verfehlt
Der Schuh drückt aber an anderer Stelle weitaus schmerzhafter. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden zahlreiche Gesetzesnovellen zur Beschleunigung der Verfahren in die Zivilprozessordnung eingebracht, die ihr Ziel jedoch gründlich verfehlt haben. Gerade im Arzthaftungsbereich und bei Verfahren zu Personenschäden ist es keine Seltenheit, dass ein Prozess zehn Jahre und länger dauert.
Das ist nicht nur aus Sicht der Betroffenen beklagenswert und völlig inakzeptabel, dieser Zustand verursacht zudem einen riesigen finanziellen Schaden im sozialen Bereich. Es ist eine Binsenweisheit, dass eine über Jahre und Jahrzehnte ausbleibende Schadensregulierung zu weiteren schweren gesundheitlichen Schäden der Betroffenen führt, sowohl psychisch als auch physisch. Das bedeutet eine Vervielfachung der Behandlungskosten und ein Ausfall an Sozialversicherungsbeiträgen in Millionenhöhe. Eine schnelle Schadensregulierung durch eine effektive Justiz würde also nicht nur den Betroffenen viel Leid ersparen, sondern auch den Staatshaushalt schonen, statt ihn zu belasten.
44 Jahre Kampf um eine angemessene Entschädigung
Wolfgang H. aus G. musste nach einem Unfall, den er im Alter von 28 Jahren erlitt, sage und schreibe 44 lange Jahre für sein Recht und eine angemessene Entschädigung kämpfen. Nach zahlreichen Klagen, die durch die Instanzen gingen, habe ich das Mandat von Herrn H. vor zwei Jahren übernommen und es innerhalb eines Jahres zu einem guten Abschluss für den Mandanten geführt.
Zum Unfallzeitpunkt war Wolfgang H. 28 Jahre alt. Jetzt ist er 73 und auch eine Entschädigung in Millionenhöhe kann ihm das verlorene Leben nicht zurückbringen. Er erlitt durch den Unfall schwere Verletzungen, unter anderem auch ein Schädel-Hirn-Trauma. Über vier Jahrzehnte beschäftigte sich dieser arme Mann tagtäglich mit dem Kampf gegen die Versicherung. Im Laufe dieser Zeit entstand ein Schriftverkehr, der Aktenordner füllte, und die Aktenordner selbst füllten schließlich die Regale an den Wänden seiner Wohnung.
Es geht mir an dieser Stelle nicht um das Regulierungsverhalten der Versicherung, dem sicher noch viele Beiträge zu widmen sind, sondern vielmehr um die Frage, warum die Justiz es überhaupt zu dieser Katastrophe kommen ließ.
Die Justiz verwaltet den Mangel
Einer der Hauptgründe ist sicherlich der Mangel an Richtern und Justizpersonal. Aufgrund der knappen Mittel, die der Staat der Justiz zur Verfügung stellt, kommt es dort schon seit Jahrzehnten zu einer „Verwaltung des Mangels“. Die Zivilkammern, bestehend aus drei Richtern, werden ständig umbesetzt. Auch der Einsatz von Halbtagskräften ist ein oft gewählter Weg, Gelder einzusparen. Beides führt zu einer regelrechten Lähmung der Prozesse.
In einem aktuellen Fall, einem schwierigen Arzthaftungsverfahren, befindet sich der Prozess jetzt im vierten Jahr. Meine Anwaltskollegen sind bereits viermal nach Kiel gefahren. Die Entfernung zum Kanzleistandort beträgt 900 km. Die vier Hauptverhandlungen mit zahlreichen Gutachtern wurden jeweils nach kurzer Zeit abgebrochen und vertagt, weil die zuständige Einzelrichterin nur halbtags arbeitete. Vor Kurzem wurde dieses Verfahren einer anderen Kammer übertragen, was zu einer weiteren Verzögerung von mehr als einem halben Jahr führte, weil sich die neuen Richter natürlich einarbeiten mussten.
Versicherer nutzen die Situation aus und verzögern die Schadensregulierung
Dies ist der Alltag in der Justiz. Und neben der Tatsache, dass sich dieser Alltag für die Betroffenen als Rechtsverweigerung darstellt, hat er noch eine weitere, ebenfalls sehr negative Nebenwirkung: Haftpflichtversicherer, die für die Regulierung der Personenschäden zuständig sind, nutzen diese Situation brutal aus. Die Verzögerung der Schadensregulierung ist keine Ausnahme, sondern die Regel, und die Taktik der Versicherungen geht auf. Ein Schwergeschädigter, der von Hartz IV leben muss, bricht irgendwann zusammen und nimmt das Almosen an, das die Versicherung dann als Abfindung anbietet.
Die Justiz, die diesem Treiben einen Riegel vorschieben könnte, schaut zu und lässt die Versicherungen gewähren. Nur allzu selten macht ein Richter Gebrauch von der Möglichkeit, das Schmerzensgeld drastisch zu erhöhen, wenn eine Versicherung die Regulierung erkennbar grundlos verweigert oder verzögert.
Diese Lähmung der Justiz und auch die erkennbare Resignation und Kapitulation der agierenden Richter vor dem System kann nur beendet werden, wenn die Politik umdenkt und das Personal nicht halbiert, sondern verdoppelt.
Ebenfalls betroffen: Gesundheitssystem und Bildung
Dies gilt nicht nur für den Bereich der Justiz. Schwer betroffen ist ebenso das Gesundheitssystem, insbesondere der Pflegebereich, und auch das Bildungssystem. Auch die Lehrer resignieren und kapitulieren vor den immer schwieriger werdenden Bedingungen. Es verwundert nicht, dass immer weniger junge Menschen den Beruf des Lehrers ergreifen wollen. Und so bewegt sich auch diese Spirale immer weiter nach unten. Dabei verkennt der Staat vollkommen seine Aufgabe. Die Leistungsfähigkeit, insbesondere auch die geistige Leistungsfähigkeit der Menschen ist die wichtigste Ressource, auf die dieser Staat zurückgreifen kann. Wenn er Kindern und jungen Menschen keine optimale Bildungsbedingung liefert, immer weniger Lehrer einstellt und das völlig überalterte Bildungssystem nicht grundlegend reformiert, zerstört der Staat seine Lebensgrundlage.
Notstand in der Pflege
Im Pflegebereich schrillen die Alarmglocken bereits seit Jahren und auch hier tut der Staat nichts. In Zeiten von Wahlkämpfen hört man von allen Parteien das Versprechen, den Pflegebereich zu verbessern. Ob tatsächlich etwas Vernünftiges geschieht, wenn denn irgendwann einmal eine Regierung gebildet wird, bleibt abzuwarten.
Aufgrund meiner Spezialisierung auf die Bearbeitung von Personenschäden nach Unfällen und Behandlungsfehlern habe ich einen tiefen Einblick in die Situation der Pflegekräfte. Betroffene, insbesondere Angehörige von Schwergeschädigten, berichten von Situationen, die man nicht glauben möchte.
Die Tochter einer Mandantin schilderte, wie sie ihre Mutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus vorgefunden hat. Die Mutter lag reglos, mit trockenen, aufgesprungenen Lippen in einem Bett, dessen Bezüge mit Kot und Erbrochenem verschmiert waren. Es stellte sich heraus, dass sich an der Ferse und am Gesäß der Mutter bereits Druckgeschwüre gebildet hatten. Auf die Beschwerde der Tochter reagierte die Krankenschwester zunächst wütend, brach aber dann in Tränen aus und war offenbar kurz vor dem Zusammenbruch. Sie schilderte, dass sie für mehrere Stationen zuständig sei, und die Arbeit von vier Pflegekräften leisten müsse.
Eine andere Mandantin, eine junge alleinerziehende Mutter, verletzte sich bei einem Fahrradsturz an der Hand. Die schwere Verletzung wurde nicht korrekt behandelt, mit der Folge, dass die Hand heute gelähmt ist. Sie arbeitete in der Altenpflege und kann diesen Beruf jetzt nicht mehr ausüben. Sie hatte zuvor ein Nettoeinkommen von 880 € monatlich! Vermutlich wird sie sich nun umschulen lassen müssen. Oder sie wird wegen des chronischen Schmerzsyndroms verrentet. Die Rente würde dann vielleicht noch etwas mehr als die Hälfte des ursprünglichen Nettolohns betragen.
Versagt der Staat ?
Wie will der Staat das System aufrechterhalten, wenn er solche Bedingungen zulässt? Dabei sind die Staatskassen gefüllt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Wirtschaft boomt und für das laufende Jahr werden optimale Bedingungen und eine weitere Steigerung des Bruttosozialprodukts prognostiziert. Für viele unsinnige Projekte ist Geld da, die wichtigsten und grundlegenden Bereiche unserer sozialen Gemeinschaft gehen leer aus. Die Situation spitzt sich mehr und mehr zu. Es steht zu vermuten dass auch eine neue Regierung nichts Grundlegendes ändern wird, sondern allenfalls, quasi als Alibi, hier und da ein paar publikumswirksame Schönheitsreparaturen vornimmt.
Martin Quirmbach, Experte für Arzthaftungsrecht / Gründungspartner, Namensgeber und seit 2018 Berater der Kanzlei