Opfer von Geburtsschäden – von der Politik vergessen
Nicht oft erlangt der bedauernswert Fall eines geburtsgeschädigten Kindes die gleiche Medienaufmerksamkeit wie ein aktueller Fall, über den SPIEGEL Online berichtete. Ausschlaggebend für die vermeidbar verzögerte Geburt des Kindes, das offenbar im Mutterleib eine Sauerstoffmangelsituation erlitt, die bei früherer Geburt vermeidbar gewesen wäre, war in diesem Fall der Umstand, dass der niedergelassene Gynäkologe klassische Warnzeichen ignoriert hat.
Vermeidbare Behandlungsfehler
Das Oberlandesgericht Hamm, das über den Fall urteilte befand, der Arzt hätte die Aufzeichnung der Herzschlagfrequenz und Wehentätigkeit, wo sich Probleme abzeichneten, nach Beendigung innerhalb von bis zu 20 Minuten ansehen müssen.
Tatsächlich sichtete der Arzt die Daten laut Gerichtsmitteilung aber erst nach etwa 50 Minuten und machte dann eine Ultraschall-Untersuchung. Er hätte anschließend die Mutter „schnellstmöglich“ in eine nahegelegene Entbindungsklinik einweisen müssen, befanden die Richter. Stattdessen fuhr die Frau zunächst mit dem eigenen Auto nach Hause.
Immer wieder ereignen sich in der Geburtshilfe nach einen wiederkehrenden Schema Zwischenfälle und auch tragische Ereignisse, die bei Einhaltung medizinischer Standards meist vermeidbar gewesen wären. Die Verkennung von Risikomerkmalen in der Anamnese der Mutter oder auch die Verkennung von Warnzeichen in der Herz-Wehenton-Aufzeichnung (CTG) gehören mit zu den häufigsten Fehlern, die in ambulanter und klinischer Geburtshilfe gemacht werden. Sie gehen fast ausnahmslos mit einer Haftung der Behandler einher.
Opfer von Geburtsschäden finden wenig Aufmerksamkeit
Geburtsschäden finden im Gegensatz zu Ereignissen mit einer Großzahl von Opfern, wie etwa dem Absturz einer Germanwings-Maschine im Rahmen des erweiterten Suizids des Piloten, vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit in den Medien, ganz zu schweigen von einer Wahrnehmung auf politischer Ebene. Der Absturz der Germanwings-Maschine hatte eine umgehende Strukturprüfung der Sicherheitsrichtlinien und sogar eine Änderung der Gesetzeslage zum Entschädigungsrecht der Angehörigen von Opfern zur Folge.
Dass seit Jahrzehnten mutmaßlich mehrere 1000 Kinder jährlich infolge medizinischer Versäumnisse ebenfalls schwerst geschädigt werden oder sogar ums Leben kommen, verursacht kaum einen Effekt auf gesundheitspolitischer oder gesetzgeberischer Ebene.
In einem Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen 2007 wird jährlich von 340.000 bis 720.000 Schäden an Patienten (aller medizinischer Fachbereiche und 17.000 Todesopfern ausgegangen, verursacht durch vermeidbare Behandlungsfehler. Diese Zahlen werden allerdings von Krankenhausbetreibern vehement in Zweifel gezogen.
Dabei könnten ein Erfassungsregister von Medizinschadenfällen oder ein TÜV für Geburtskliniken tatsächlich einiges zum Positiven verändern und die Strukturdefizite in organisatorischer Hinsicht deutlich verringern.
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht