Mitverschulden von Kindern bei einem Verkehrsunfall
Auf dem Weg zur Schule überquert die 10-jährige Maja die Straße an einer Fußgängerampel. Dabei wird sie von einem PKW erfasst und schwer verletzt. Im Nachhinein lässt sich kaum mehr rekonstruieren, ob die Fußgängerampel rot oder grün war. Es gibt zahlreiche Zeugenaussagen, die allerdings nicht zu einer eindeutigen Antwort führen.
Haftung aus der Betriebsgefahr
Auch wenn der Unfallhergang nicht eindeutig geklärt werden kann, haftet grundsätzlich die Krafthaftpflichtversicherung des PKW aus der sog. Betriebsgefahr des Fahrzeuges, d.h. auf ein Verschulden des Fahrers kommt es nicht an.
Ein etwaiger Rotlichtverstoß von Maja würde allenfalls ein Mitverschulden des Kindes begründen, falls ein Verstoß überhaupt nachgewiesen werden kann. Das Mitverschulden ist relevant für die Bewertung der Haftungsquote. Kann ein Mitverschulden nachgewiesen werden, führt dies zu einer Kürzung der Ansprüche des Kindes. Beweispflichtig für das Mitverschulden ist der Unfallverursacher.
Mitverschulden – Haftungsprivileg für Kinder
Selbst wenn man von einem Rotlichtverstoß ausgehen würde, wäre im nächsten Schritt zu prüfen, ob Maja, die 10 Jahre und 5 Monate alt ist, überhaupt die erforderliche Einsichtsfähigkeit in ihr Verhalten hat. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass bei Schäden im Straßenverkehr mit Kraftfahrzeugen eine Verantwortlichkeit bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres vollständig ausgeschlossen ist.
Bei Kindern ab 10 Jahren ist ein (Mit-)Verschulden ausgeschlossen, wenn das Kind nicht die erforderliche Einsichtsfähigkeit in das Fehlverhalten hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Kind nicht schlagartig mit dem Erreichen des 10. Lebensjahres die volle Verantwortlichkeit im Straßenverkehr erlangt. Wie gesagt, Maja ist gerade einmal 10 Jahre alt geworden und die erforderliche Einsichtsfähigkeit ist (noch) nicht geben.
Ein Mitverschulden käme nur dann in Betracht, wenn die Einsichtsfähigkeit im Quervergleich mit Kindern der gleichen Altersgruppe bejaht werden könnte. Zu berücksichtigen sind auch kindliche Eigenheiten wie Impulsivität, mangelnde Konzentrationsfähigkeit oder gruppendynamisches Verhalten, die ein Kind an der realistischen Einschätzung der Gefahren im Straßenverkehr hindern und die mit Erreichen des 10. Lebensjahres nicht einfach verschwunden sind. In die Bewertung muss daher immer auch die altersbedingte Entwicklung des Kindes einbezogen werden. Für den vorliegenden Fall bedeutet das, es lag ein alterstypisches Fehlverhalten vor. Als Faustregel gilt, dass Kinder erst zwischen 8 bis 12 Jahren lernen, mit den Gefahren des Straßenverkehrs einigermaßen angemessen umzugehen.
Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat in seinem Beschluss vom 14.12.2009 (AZ 31/09) die volle Verantwortung von Kindern, die gerade 10 Jahre alt geworden sind, für verfassungsrechtlich bedenklich erachtet.
Es gibt immer wieder Konstellationen, in denen die Einholung eines Gutachtens zur Klärung der Frage der Einsichtsfähigkeit erforderlich ist.
Kinder im heutigen Straßenverkehr
Auf der Grundlage psychologischer Erkenntnisse über die Entwicklung der Fähigkeiten von Kindern zur Bewältigung des modernen Straßenverkehrs müsste eine Erhöhung der Altersgrenze für die zivilrechtliche Haftung auf mindestens ca. 12 Jahre gefordert werden. Noch besser wäre aus der Sicht der Kinderpsychologen eine Altersgrenze von 14 Jahren, denn erst dann sind alle Fähigkeiten für das Zu-Fuß-Gehen und das Radfahren bei fast allen Kindern weitgehend entwickelt. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen haben Kinder erst mit ca. 9 bis 10 Jahren ein Verständnis für vorbeugende Maßnahmen im Straßenverkehr. Aufmerksamkeit, Konzentration und Reaktionsfähigkeit sind sogar erst mit ca. 14 Jahren vollständig ausgebildet. Bis zum Alter von ca. 12 Jahren lassen sich Kinder noch leicht ablenken und vergessen allzu leicht die Gefahren des Straßenverkehrs.
Rechtsanwältin und Partnerin Melanie Mathis, Fachanwältin für Verkehrsrecht