BGH erkennt Urlaubsmehrkosten an
Ist ein Kind aufgrund einer fehlerhaften Geburt schwerbehindert und entstehen dadurch Mehrkosten fĂŒr eine Urlaubsreise, muss die Haftpflichtversicherung der Geburtsklinik bzw. des KliniktrĂ€gers dafĂŒr aufkommen, so der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 10.03.2020 (Az. VI ZR 316/19).
Im vorliegenden Fall erlitt der 1988 geborene KlĂ€ger aufgrund Ă€rztlicher Behandlungsfehler bei der Geburt schwere SchĂ€den. Im Zuge der auĂergerichtlichen Verhandlungen mit dem Haftpflichtversicherer bzw. der Krankenhausbetreiberin wurde ein Vergleich geschlossen, der die Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlungen regelte. Unter anderem verpflichtete sich die Krankenhausbetreiberin zur Ăbernahme der Pflege- und Betreuungskosten, soweit diese medizinisch notwendig waren.
Kein Abzug durch das Schmerzensgeld
Nach Auffassung des BGH kann die Regulierung der Mehrkosten nicht mit dem Argument verweigert werden, sie seien zum einen âmedizinisch nicht notwendigâ und zum anderen bereits durch das Schmerzensgeld abgegolten. Der BGH hat in seinem Urteil auch klargestellt, dass solche Kosten nicht mit dem Schmerzensgeld abgegolten sind.
Was Schmerzensgeld wirklich ausgleicht
Damit stellt sich erneut die Frage nach dem Unterschied zwischen Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Das Schmerzensgeld soll den immateriellen Schaden des GeschĂ€digten ausgleichen. Vereinfacht gesagt: Es soll die entgangene Lebensfreude âzurĂŒckkaufenâ. Wie dies bei einem SchwerstgeschĂ€digten, der möglicherweise nicht in der Lage ist, sich selbst zu artikulieren oder zu verstehen, ĂŒberhaupt gelingen soll, bleibt freilich ein RĂ€tsel. Das Schmerzensgeld hat daher oft keine wirkliche Ausgleichswirkung, da unter UmstĂ€nden nie festgestellt werden kann, ob ein schwerstgeschĂ€digtes Kind ĂŒberhaupt Lebensfreude empfinden kann.
Ist ein Kind aber in einem solchen AusmaĂ geschĂ€digt, dass es Lebensfreude empfinden und ausdrĂŒcken kann, so erscheint die Frage berechtigt, ob dann ein Urlaub, der dem Kind mehr Lebensfreude vermittelt, nicht sogar aus dem Schmerzensgeld zu bezahlen ist.
Einem solchen Ansatz ist jedoch eine klare Absage zu erteilen. Ein Kind wĂŒrde ohnehin mit seinen Eltern Urlaub machen, insbesondere wenn es gesund ist, ein Erwachsener auf jeden Fall. Eine âeinfacheâ Urlaubsreise aus dem Schmerzensgeld zu finanzieren, ist daher nicht gerechtfertigt.
Wann Mehrkosten im Urlaub ersatzfÀhig sind
Im Gegensatz zum Schmerzensgeld (dem immateriellen Schaden) ersetzt der materielle Schadenersatz alle tatsĂ€chlichen Aufwendungen, die im Zusammenhang mit den behinderungsbedingten (Mehr-)Kosten entstehen. Dazu gehören typischerweise die Kosten fĂŒr einen erhöhten personellen Betreuungs- und Pflegebedarf, aber auch Kosten fĂŒr eine behinderungsbedingte Immobilie, ein Kraftfahrzeug und eben auch fĂŒr einen behinderungsbedingt teureren Urlaub.
Urlaubskosten sind Teil des Schadensersatzes
Der Haftpflichtversicherer kann sich also nicht darauf berufen, dass die Mehrkosten fĂŒr eine Urlaubsreise, die ein behindertes Kind mit seinen Eltern unternimmt, bereits mit dem Schmerzensgeld abgegolten sind. Das Gegenteil ist der Fall. Nichts anderes gilt natĂŒrlich, wenn das behinderte âKindâ inzwischen erwachsen ist. Es liegt auf der Hand, dass ein schwerstbehinderter Mensch, der möglicherweise auf einen Rollstuhl angewiesen ist oder eine sonstige besondere medizinische Betreuung (ggf. rund um die Uhr) benötigt, besondere Kosten verursacht, wenn er in den Urlaub fĂ€hrt.
Möglicherweise mĂŒssen Begleitpersonen (neben den Eltern) dabei sein. Sicherlich ist auch die Unterbringung eines Kindes mit besonderen BedĂŒrfnissen im Urlaub nicht in jeder Einrichtung oder Hotelanlage möglich. In der Regel sind behinderten- und therapiegerechte Einrichtungen auch mit höheren Kosten verbunden. Es versteht sich von selbst, dass all diese Kosten fĂŒr die DurchfĂŒhrung einer Urlaubsreise fĂŒr ein behindertes Kind ersatzfĂ€hig wĂ€ren.
Naturalrestitution in der Praxis
Der Bundesgerichtshof bestĂ€tigte in seinem Urteil die Entscheidungen zweier Vorinstanzen, die entsprechende Mehrkosten als behinderungsbedingten Mehrbedarf angesehen hatten. Dies ist vor dem Hintergrund der obigen AusfĂŒhrungen auch folgerichtig, denn: Der Umfang der Schadensersatzpflicht begrĂŒndet die Verpflichtung des SchĂ€digers, den Zustand herzustellen, der bestehen wĂŒrde, wenn das schĂ€digende Ereignis nicht eingetreten wĂ€re (Naturalrestitution). § 249 Abs. 2 BGB gibt dem GeschĂ€digten zugleich das Recht, den zur Herstellung dieses Zustands erforderlichen Geldbetrag zu verlangen.
Sinn und Zweck des Schadensersatzrechts ist es, den GeschÀdigten in einen Zustand zu versetzen, in dem seine BeeintrÀchtigung zumindest in finanzieller Hinsicht sinnbildlich verschwindet. Sie soll sich nicht als Belastung in der VermögenssphÀre niederschlagen. Der GeschÀdigte soll zumindest wirtschaftlich so gestellt werden, als hÀtte er die SchÀdigung nie erlitten.
Was ein âverstĂ€ndiger GeschĂ€digterâ tun wĂŒrde
Dazu gehört zwangslĂ€ufig auch, dass der GeschĂ€digte in die Lage versetzt wird, Urlaub zu machen. Hinsichtlich der Lebenshaltung ist grundsĂ€tzlich auf den vor der SchĂ€digung bestehenden Lebensstandard abzustellen. Gibt es - wie typischerweise bei einem geburtsgeschĂ€digten Kind - keinen vor der SchĂ€digung bestehenden Standard, so ist auf den familiĂ€ren Standard abzustellen. In dieser Situation wird der MaĂstab auch in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts hĂ€ufig explizit benannt: derjenige eines âverstĂ€ndigen GeschĂ€digten in seiner besonderen Lageâ. âMassgebend ist grundsĂ€tzlich, was ein vernĂŒnftiger GeschĂ€digter an Mitteln aufwenden wĂŒrde, wenn er sie selbst zu tragen hĂ€tte und tragen könnteâ. Dass eine Familie Urlaub macht und dass auch eine erwachsene Person Urlaub macht, ist Standard! Wenn dieser erwachsene Mensch einen behinderungsbedingten Mehraufwand hat, um diesen Standard zu erhalten und zu gewĂ€hrleisten, dann ist dieser Mehraufwand zwangslĂ€ufig ein behinderungsbedingter Mehrbedarf und damit Schadensersatz im klassischen Sinne.
Insofern ist die Entscheidung des BGH und der Vorinstanzen sehr konsequent und zeigt einmal mehr, mit welchen zum Teil abstrusen Argumenten man sich als klagende Partei in kostenintensiven Prozessen auseinandersetzen muss.