Organisatorische Standards in der Geburtshilfe und ihre Entwicklung
Die Süddeutsche Zeitung hat in dieser Woche zwei höchst lesenswerte Beiträge zur möglichen Entwicklung der organisatorischen Standards in der Geburtshilfe veröffentlicht.
Schließung von Kreißsälen als Chance?
Der Artikel „Eine schöne Geburt? Ist nicht das Wichtigste“ zeigt mit durchaus beachtlichen Argumenten auf, dass der bundesweite Trend zur Schließung von Kreißsälen nicht als Bedrohungsszenario wahrgenommen werden muss. Vielmehr sollte das als echte Chance zur Qualitätssteigerung und zur Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit in Kreißsälen verstanden werden. Durch eine sogenannte Regionalisierung und Zentralisierung der Geburten auf bundesweit weniger, zwangsläufig dann aber personell und technisch besser ausgestattete Geburtskliniken, ließen sich mütterliche und kindliche Notfälle deutlich verringern. Zudem hätte die damit verbundene Aufrüstung der spezialisierteren Kreißsäle zwangsläufig einen positiven Effekt auf die Arbeitsbedingungen und das praktische „Training“ der Geburtshelferinnen und Geburtshelfer. Dass es sich hierbei nicht bloß um Konkurrenz- oder fehlgeleitetes Fortschrittsdenken handelt, zeigt auch eine vergleichende Betrachtung der klinischen Situation in Norwegen, Schweden oder auch England, wo Geburtshilfe an weitaus weniger Kliniken praktiziert wird als hier in Deutschland.
Landkarte der Unterversorgung
Der Folgebeitrag „Wie das Leben beginnt, geht uns alle an“ zeigt den krassen Gegenentwurf auf und verweist auf eine „Landkarte der Unterversorgung“ bei dem von vielen werdenden Müttern gehegten Wunsch nach wohnortnahen Hebammen und Kreißsälen. Vergleichende Betrachtungen der Entwicklung klinischer Geburtshilfe auf den Nordseeinseln oder etwa in Bayerns ländlicheren Regionen, wo viele Kliniken bei gleichzeitigem Anstieg der Geburtenrate geschlossen haben, würden insgesamt einen negativen Einfluss auf die Qualität der Geburtshilfe Deutschlands ausüben. Kritisiert wird zudem der jüngst ergangene Schiedsspruch der Schiedsstelle, die zwischen den Hebammenvertreterinnen und den Gesetzlichen Krankenkassen vermittelt. Danach müssen Beleghebammen ab 2018 Einschränkungen bei der Abrechnung von Leistungen hinnehmen. Zukünftig sollen sie nur noch die geburtshilfliche Betreuung von zwei Frauen gleichzeitig abrechnen können, ungeachtet der aktuellen personellen Situation in der jeweiligen Klinik.
Kindliche Schädigungen nach einer Geburt, die die Gerichte seit vielen Jahrzehnten beschäftigen, müssen nicht zwangsläufig Folge von ärztlichen Versäumnissen oder Fehlern einer Hebamme sein. Doch ist inzwischen der Eindruck entstanden, dass die berufspolitische Diskussion um die Situation freiberuflicher Hebammen und kleinerer Geburtskliniken ideologisiert und verklärt wurde. Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzungen um Geburtsschadensprozesse stehen immer die Medizin als situationsfest funktionierende Institution und das vom Bundesgerichtshof zu Recht geforderte Bild einer mündigen, werdenden Mutter, die zu jeder Zeit der Behandlung einen Anspruch auf volle Information, Einbeziehung und nicht zuletzt Mit- und Selbstbestimmung des Geschehens hat. Das betrifft auch die Wahl des Geburtsortes.
Regionale Zentralisierung der Geburtshilfe
Aus unserer anwaltlichen Betrachtung und Erfahrung heraus, werden relativ viele schwerwiegende Schadensfälle dadurch verursacht, dass werdende Mütter gar nicht, zu spät oder in die falsche Entbindungsklinik geschickt wurden. Jede notwendige Verlegung bedeutet eine zusätzliche – vermeidbare – organisatorische Schnittstelle in der Geburtshilfe und somit einen potentiellen Organisationsfehler aufgrund möglicher Verluste an Informationen oder Kommunikation. Gemessen am Patientinnenaufkommen verursachen freiberufliche Hebammen und kleine Geburtskliniken durch eine fehlerhafte Risikoselektion oder verspätete Weiterverlegung überproportional häufig schwerwiegende Schäden bei Neugeborenen. Diese haben dann ein Leben lang mit den Folgen zu kämpfen, von den betroffenen Eltern ganz zu schweigen. Der Kern des Problems ist, dass die Behandler meist – aus hinterher häufig nicht aufklärbaren Gründen – nicht erkannten, wann die Entbindungssituation eine außerklinische Weiterbetreuung verboten hätte. Der medizinische Standard bzw. die Medizin als Institution verbietet es eigentlich, dass sich solche Situationen anbahnen können, geschweige denn, dass sie überhaupt eintreten.
Aus Sicht der mit der Arzthaftung befassten Juristen sind daher Forderungen nach einer regionalen Zentralisierung der Geburtshilfe mehr als plausibel. Bei Schwangerschaften, die – ggf. auch erst gegen Ende der Tragzeit – ein Risiko aufweisen, sollte bei der Frage, welchen Kliniktyp die werdende Mutter aufsucht, keine Diskussion aufkommen. Diese Gebärenden müssen auch nach Meinung gerichtsbekannter Sachverständiger aus kleinen Geburtskliniken oder – schlimmer noch – der rein ambulanten Betreuung herausgenommen werden.
Im einzelnen regionalen Sonderkonstellationen (Föhr, Sylt, Bayern) mag dies auf den ersten Blick zu untragbaren Situationen führen. Hier kommt es am Ende sicher auch auf eine persönliche Entscheidung der werdenden Mutter im Hinblick auf den Geburtsort an. Diese Entscheidung kann jedoch nur richtig sein, wenn die vorherige Beratung durch die verantwortlichen Geburtshelfer und Geburtshelferinnen dem medizinischen Standard entsprochen hat.
„Die allermeisten (Geburten) bleiben als schönes Erlebnis in Erinnerung. Aber das nutzt den zwei von 100 Frauen nichts, bei denen alles anders kam. Und deren Leben vielleicht anders verlaufen wäre, wenn sie zur richtigen Zeit in den richtigen Händen gewesen wären. In den Händen, die es in Deutschland ja gibt, nur nicht immer gerade dort, wo sie gebraucht werden.“ (Süddeutsche Zeitung, 18.10.2017)
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht