Geburtsschaden – schicksalhaft oder vermeidbar?
Die Quote der bei den Medizinischen Diensten der Krankenkassen und den Ärztekammern nachgewiesener Fehlbehandlungen liegt im Schnitt schon seit vielen Jahren recht konstant zwischen 20 und 35%. Nach Daten eines der größten deutschen Versicherungsunternehmen im Krankenhausbereich hat sich die Zahl der jährlich gemeldeten Fälle in der Zeit zwischen 1982 bis 2006 vervielfacht. Ein Eindruck der von Haftpflichtversicherern bundesweit bestätigt wird.
Rückläufiger Trend bei Geburtsschäden
Ein vermeintlich gegenläufiger Trend zeigt sich im Bereich der Geburtsschäden. Gründe für diese Entwicklung waren die noch bis vor kurzem zurückgehenden Geburtenzahlen und ein medizinischer Trend zur frühzeitigen Kaiserschnittentbindung (ca. 25 bis 35% Kaiserschnittquote in deutschen Kliniken).
Auch wenn der Trend der Anspruchsstellung tendenziell rückläufig ist, werden dort im Vergleich zu anderen Fachgebieten überproportional höhere Regulierungssummen gezahlt. Dies betrifft im Übrigen auch andere Fachgebiete, wenn es um schwere Hirnschädigungen jüngerer Menschen und insbesondere auch von Kindern geht.
Ärzte kommen ihrer Informationspflicht nicht immer nach
Folgende kindlichen Schädigungsmuster sind mit der Geburtshilfe und Behandlungsfehlern assoziiert:
- kindliche Cerebralparese
- vermeidbar fehlerhafte Frühgeburten (periventrikuläre Leukomalazien)
- Hirnschädigungen Frühgeborener aufgrund vermeidbar verzögerter Kaiserschnittentbindung (z.B. bei IUGR)
- vermeidbar infektionsgeschädigte Kinder
- infolge fehlerhafter ärztlicher Beratung/Diagnostik ausgetragene Kinder: Bei korrekter pränataler Beratung und unter Einhaltung medizinjuristischer Kautelen wäre es zu rechtmäßigen Schwangerschaftsabbrüchen gekommen
- Armplexusparesen oder Hirnschädigungen infolge der Verkennung und fehlerhaften Behandlung einer speziellen geburtshilflichen Komplikation (Schulterdystokie).
Eltern von unter der Geburt geschädigten Kindern wird häufig signalisiert, dass eine nach der Geburt aufgetretene Behinderung schicksalhaft oder die Folge unvermeidbarer Komplikationen war. Manche Eltern begnügen sich aus unterschiedlichsten, auch anerkennenswerten Gründen mit solchen Informationen und lassen die Sache auf sich beruhen. Nach dem 2013 in Kraft getretenen Patientenrechtegesetz ist die Behandlungsseite allerdings verpflichtet, entweder auf Nachfrage oder, wenn dies zur Abwendung gesundheitlicher Schäden erforderlich ist, die Eltern über das Vorliegen von Anhaltspunkten für Behandlungsfehler zu informieren. Jedoch kommen Ärzte dieser Verpflichtung nicht immer nach.
Bei Verdacht auf einen Behandlungsfehler ist frühzeitiges Handeln wichtig
Wir raten betroffenen Eltern zu prüfen, ob es nicht im Rahmen der Geburt zu einer Fehlbehandlung kam. Dabei ist der zu prüfende Zeitraum weit zu fassen, nämlich vom Beginn der Schwangerschaftsbetreuung über die konkrete geburtshilfliche Begleitung durch Hebammen und Ärzte kurz vor und unter der Geburt bis zur Versorgung des Kindes nach der Geburt.
In Zweifelsfragen sollte eine zweite ärztliche Meinung eingeholt werden. Parallel dazu sollte damit begonnen werden, Beweise zu sichern. Entsteht der Verdachtsmoment bereits in der Geburtsklinik, sollten noch während des Aufenthaltes Zeugen vermerkt, Abschriften der Behandlungsunterlagen sowie Gedächtnisprotokolle gefertigt werden. Auch Fotos sind hilfreich, um die Verdachtsmomente festzuhalten bzw. zu dokumentieren.
Es sollte frühzeitig, idealerweise durch fachmännische Hilfe, eine medizinische und juristische Prüfung erfolgen, weil die Informationspolitik gegenüber nicht anwaltlich vertretenen Patienten nach wie vor schlecht ist. Vor allem der Weg über ein gynäkologisch-geburtshilfliches Privatgutachten hat sich bewährt, zumal die Tendenz zur neutralen Begutachtung zugenommen hat. Man findet heutzutage in der Gutachterszene viel häufiger renommierte Ärzte, die bereit sind, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Fazit
Gerade im Bereich schwerer Schäden unter der Geburt ist die Aufklärungsquote überdurchschnittlich hoch und die Behandlungsfehlerquote liegt über dem Schnitt der bekannten Statistiken.
Obwohl dieser Trend all jenen Mut machen sollte, die sich zu einer rechtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen entschließen, bleibt es dabei, dass ein Rechtsstreit weder die Wiedergutmachung des schweren Gesundheitsschadens beim Kind, noch das Leid im eigentlichen Sinne, noch die immaterielle Beeinträchtigung ausgleichen kann, die die Geschädigten erfahren haben. Im Idealfall verschafft die juristische Auseinandersetzung aber eine emotionale Genugtuung der betroffenen Eltern und reduziert jedenfalls in Teilbereichen die finanziellen Belastungen, die mit der schwerwiegenden Behinderung eines Menschen einhergehen können.
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht