Cytotec: Umstrittene Anwendung in der Geburtshilfe • neueste Entwicklungen: Cytotec vom Markt genommen
Seit vielen Jahren schon ist das Medikament Cytotec, das den Wirkstoff Misoprostol enthält, nicht nur in der Medienberichterstattung in der Kritik. Es handelt sich um ein Medikament, das in Geburtskliniken zur Geburtseinleitung bei Schwangeren angewendet wird, weil es Wehen auslösen kann und die „natürliche“ Geburt damit auf den Weg bringt. Es findet im Übrigen auch Anwendung bei post- und peripartalen Blutungen und (hochdosiert) bei der Durchführung von Aborten.
Insbesondere in der Geburtshilfe blieb Cytotec aber jahrelang umstritten. Das Medikament ist in der klinischen Geburtshilfe unter Gynäkologen sehr beliebt, weil es günstig und gut verfügbar ist. Vor allem ist es günstiger als andere Medikamente, die jedoch für den Anwendungsbereich in der Geburtshilfe ausdrücklich zugelassen sind.
Umstrittene Anwendung von Cytotec
Das Problem mit Cytotec: Seine Sicherheit für die Anwendung in der Geburtshilfe war niemals erwiesen, noch war sie gewährleistet. Das Gefahrenpotenzial hingegen war gut bekannt. Der Hersteller selbst hält die Anwendung von Cytotec in der Geburtshilfe für kontraindiziert. Es kann einen Geburtsvorgang, gerade in der Hand unerfahrener Geburtshelfer, buchstäblich aus dem Ruder laufen lassen. Das Mittel kann zu unkontrollierbaren Wehen (Muskelkontraktionen), Uterusrupturen und – daraus resultierend – zu unkontrollierbaren Blutungen führen, die zur Belastungsprobe für die Mutter und das ungeborene Kind werden können. Die Konsequenzen für Mutter und Kind können zwangsläufig verheerend sein.
Cytotec ist gerichtsbekannt
In gerichtsbekannten Fällen verstarben Mütter, nachdem ihre Gebärmutter nach der Gabe von Cytotec und der dadurch ausgelösten Wehentätigkeit gerissen war. Kinder kamen mit einem Hirnschaden zur Welt, weil sie einen Sauerstoffmangel unter der Geburt erlitten, etwa weil es zu einer sogenannten hyperfrequenten Wehentätigkeit kam. Das Kind konnte sich im Mutterleib von dieser Krafteinwirkung nicht richtig erholen und im schlimmsten Fall verstarben Mutter und Kind.
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hatte sich jahrelang bei der Geburtseinleitung von werdenden Müttern, die bereits eine Kaiserschnittentbindung in ihrer Schwangerschaftsanamnese hatten (der sogenannte „Zustand nach Kaiserschnitt“), explizit gegen die Anwendung von Cytotec (Misoprostol) ausgesprochen. Kommt das Medikament in einer solchen Konstellation dennoch zur Anwendung, handelt es sich sogar um einen groben Behandlungsfehler (Landgericht Bonn, 9 O 266/11).
Schonungslose Aufklärung unabdingbar
Kam Cytotec entgegen dem guten klinischen Standard dennoch in der Geburtshilfe zur Anwendung, dann musste die werdende Mutter unter mehreren Gesichtspunkten (schonungslos) aufgeklärt werden:
- Cytotec ist in Deutschland für den Anwendungsbereich in der Geburtshilfe nicht zugelassen, eine Zulassung ist auch nicht beabsichtigt oder zu erwarten.
- Der Medikamenten-Hersteller geht selbst von einer Kontraindikation für den Einsatz in der Geburtshilfe aus.
- Das Medikament kann statistisch mit höherer Wahrscheinlichkeit zu mütterlichen und kindlichen Komplikationen führen, es könnte eine Kontraindikation vorliegen.
- Die Vergabe von Cytotec erfordert eine extrem engmaschige Überwachung der Geburt, etwas durch ein sogenanntes Dauer-CTG.
- Es gibt Behandlungsalternativen (schonendere Verfahren) zu Cytotec.
Risiken blieben oftmals unerwähnt
In vielen Haftungsfällen im Zusammenhang mit Cytotec, waren diese Anforderungen bei Weitem nicht erfüllt. In aller Regel begnügen die Kliniken sich mit standardisierten Formularaufklärungsbögen, die die Risiken unterschlagen, verharmlosen oder beschönigen. Wenn sich eine Gebärende nach einer unterstellten korrekten Risikoaufklärung dennoch für den Einsatz dieses Medikaments entscheidet (warum auch immer?!), kann die Entbindungsklinik, jedenfalls dann, wenn die Aufklärung gewissenhaft durchgeführt wurde und auch bewiesen werden kann, für Schäden aus der Anwendung von Cytotec nicht haftbar gemacht werden.
Gleichwohl blieb der negative Beigeschmack, weshalb ein solches Medikament überhaupt im Anwendungsbereich „Geburt“ zum Einsatz kommen kann. Sollte die Klinik keine Alternativen zu der Geburtseinleitung mittels Cytotec vorhalten oder anbieten, müsste man wohl von einem Organisationsmangel der geburtshilflichen Abteilung ausgehen.
Kommt Cytotec dennoch bei einer Schwangeren in der Klinik zum Einsatz, hat die Klinik bedingungslos für eine gründliche, ggf. sogar lückenlose Überwachung der kindlichen Herztöne, sowie der mütterlichen Befindlichkeit (Uterusaktivität, Kontraktionen/Wehen, Blutdruckwerte) Sorge zu tragen. Jedes Versäumnis in diesem Bereich könnte einen Befunderhebungsfehler (unterlassene Befunderhebung) mit haftungsrechtlichen Konsequenzen darstellen, so dass es im Haftungsfall zu einer sog. Beweislastumkehr zugunsten der Patientenseite kommen kann.
Update Mai 2021
Schon im April wurde vom Importstopp von Cytotec in de Geburtshilfe berichtet: Cytotec ist weg, was bleibt
Cytotec verschwindet schon bald gänzlich vom deutschen Markt. Cytotec wurde in Deutschland nicht mehr im Original, sondern nur noch von drei Parallelimporteuren vertrieben. Der Hersteller Pfizer hatte den Vertrieb in Deutschland bereits 2006 aus „ethischen Gründen“ gestoppt.
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht