Beeinflusst bewusstes Wahrnehmen verletzungsbedingter Einschränkungen die Schmerzensgeldhöhe?
Das Oberlandesgericht Dresden hat mit Urteil vom 18.08.2020 einem geburtsgeschädigten Kind einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 425.000 € zugesprochen. Das betroffene Kind leidet aufgrund eines Behandlungsfehlers unter erheblichen Bewegungseinschränkungen, die voraussichtlich lebenslang und dauerhaft bestehen bleiben (dyskinetische Zerebralparese, Rumpfhypotonie, Hypotonie der unteren Extremitäten).
Die Motorik im Bereich der rechten Hand ist nur halbwegs willkürlich gesteuert (und das mit erheblichen Einschränkungen). Außerdem bestehen dauerhafte Spastiken im Sinne einer hohen Tonisierung der Finger. Auch im Bereich der unteren Extremitäten sind Zeichen deutlicher Spastik erkennbar. Das Kind kann nicht selbstständig laufen und kann auch nur mit Hilfsmitteln aufrecht sitzen. Weiterhin leidet es unter einer gestörten Atemmechanik, ausgelöst durch die Bewegungseinschränkungen. Es liegen Schäden der Wirbelsäule vor und ein Gesamt-IQ von 74.
Leidet ein Kind weniger unter einer Behinderung, weil es nichts anderes kennt?
Der Sachverständige hatte im Verfahren geäußert, „dass die meisten Kinder, die seit der Geburt an einer Zerebralparese leiden, mit dieser Behinderung in der Regel gut zurecht kämen, weil sie aufgrund des frühen Eintritts der Behinderung das eigene Leben nicht als Gesunder erlebt hätten und daher nicht retrospektiv einschätzen könnten, was sie persönlich verloren haben könnten.“
Eine solche Äußerung ist extrem befremdlich. Der Sachverständige wollte damit zum Ausdruck bringen, dass es dem Kläger mit seiner Behinderung unter Umständen verhältnismäßig gut geht, weil er schlicht und einfach nicht weiß, wie ein Leben ohne Behinderung ist. Was soll man von einer solchen Äußerung eines Sachverständigen ernsthaft halten?
Wahrnehmen der eigenen Beeinträchtigung erhöht den Leidensdruck
Wenn ein Kind in der Lage ist, seine eigenen Beeinträchtigungen wahrzunehmen und unter Umständen gleichaltrige Kinder zu erleben, die ohne Behinderung aufwachsen und ein weitestgehend unbeschwertes Leben führen, erhöht das den Leidensdruck des Kindes immens. Ob und wie es das zum Ausdruck bringt und seine seelischen Schmerzen und Leiden innerlich verarbeitet, bleibt womöglich für immer sein Geheimnis, weil es das mit anderen nicht teilen möchte. Immerhin gestand der Sachverständige dem Kläger im Prozess zu, dass er möglicherweise im späteren Leben aufgrund der kognitiven Situation depressive Tendenzen entwickeln könnte.
Aufgrund der Äußerung des Sachverständigen hatte das erstinstanzliche Gericht das ursprünglich beantragte Schmerzensgeld für überhöht gehalten. Die Begründung: Immerhin habe der Kläger trotz seiner Behinderung eine gewisse Lebensqualität, könne Freude empfinden und zum Ausdruck bringen.
Gerade dass der Kläger (…) infolge des Erhalts seiner Persönlichkeit die Unterschiede zu gesunden Mitmenschen und sein diesbezügliches „Anderssein“ in der Zukunft möglicherweise verstärkt wahrnimmt, kann nach Auffassung des Senats nicht dazu führen, dass mit Blick hierauf der vollständigen Persönlichkeitszerstörung vergleichbare Schmerzensgeldbeträge zuzusprechen wären. Sehr wohl berücksichtigt hatte der Senat, dass der Verletzte sich seiner Beeinträchtigung bewusst ist und deshalb in besonderem Maße unter ihr leidet.
Gerade dieser Gesichtspunkt könnte für eine Erhöhung des Schmerzensgeldes von Bedeutung sein. Dennoch wollte sich der Senat nicht explizit der Rechtsprechung anschließen, wonach für Geschädigte mit einer „vollständigen Zerstörung der Persönlichkeit“ höchste Schmerzensgelder im Bereich von Beträgen von 500.000 € und mehr (derzeit 800.000 € als Obergrenze) zuzuerkennen seien (s. hierzu auch den Beitrag » Schmerzensgeld ohne Ende).
Schmerzensgeldrechtsprechung bei schwersten Personenschäden
Es mag eine Frage der Weltanschauung sein, ob die Erkenntnis in erlittenes eigenes Leid die Lebensqualität steigert oder eher mindert bzw. ob eine verbliebene Einsichtsfähigkeit ausschließlich positiv zu Gunsten des Geschädigten (in finanzieller Hinsicht bedeutet das dann: zu Lasten des Geschädigten) zu werten ist.
Wir sind der Ansicht, dass sich die Frage nach subjektiv empfundener gesteigerter Lebensqualität durch verbliebene Empfindungsfähigkeit im Zweifel nicht zu Lasten des Geschädigten auswirken darf und vielmehr das Schmerzensgeld erhöhen muss. Unter anderem derartige Unaufklärbarkeiten (wie etwa auch die ungewisse Lebenserwartung eines schwerstgeschädigten Menschen) verleihen gerade der Schmerzensgeldrechtsprechung bei schwersten Personenschäden ihr spezifisches Gepräge. Im Ergebnis darf daher eine vermeintlich gesteigerte Lebensqualität und (auch) positive Empfindung nicht angeführt werden, um bei einem Menschen, der weitestgehend in seinen Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt wurde (insofern dann eben doch: Persönlichkeitszerstörung), das Schmerzensgeld zu reduzieren.
Auch wenn man in diesen Fällen nicht von vollständigen Persönlichkeitszerstörungen spricht, so ist sie in aller Regel jedoch weitestgehend.
Es hat zuletzt » Entscheidungen mit außerordentlich hohen Schmerzensgeldern vom Landgericht Aurich, OLG Oldenburg und Landgericht Gießen gegeben, in welchen Beträge oberhalb von 800.000 € ausgeurteilt wurden.
Sämtlichen Geschädigten war gemein, dass sie ihre Leiden und das besondere Ausmaß der erlittenen Beeinträchtigung Tag für Tag bei nachweislich verbliebener und vorhandener Persönlichkeit und Erkenntnismöglichkeit wahrnehmen.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Bewertung des OLG Dresden inkonsequent und es gilt, der Frage des wirklichen Leidensdrucks eines vermeintlich weniger geschädigten Menschen intensiver nachzugehen, damit auch solchermaßen geschädigte Kinder und Erwachsenen angemessen entschädigt werden.
Jan Tübben, Fachanwalt für Medizinrecht